Die Inzestscheu der Wilden
23
ist blutsverwandt, ist eine Familie, und in dieser Familie werden
die entferntesten Verwandtschaftsgrade als absolutes Hindernis der
sexuellen Vereinigung anerkannt.
So zeigen uns denn diese Wilden einen ungewohnt hohen
Grad von Inzestscheu oder Inzestempfindlichkeit, verbunden mit der
von uns nicht gut verstandenen Eigentümlichkeit, daß sie die reale
Blutsverwandtschaft durch die Totemverwandtschaft ersetzen. Wir
dürfen indes diesen Gegensatz nicht allzusehr übertreiben und wollen
im Gedächtnis behalten, daß die Totemverbote den realen Inzest
als Spezialfall miteinschließen.
Auf welche Weise es dabei zum Ersatz der wirklichen
Familie durch die Totemsippe gekommen, bleibt ein Rätsel, dessen
Lösung vielleicht mit der Aufklärung des Totem selbst zusammen-
fällt. Man müßte freilich daran denken, daß bei einer gewissen, über
die Eheschranken hinausgehenden Freiheit des Sexual Verkehrs die
Blutsverwandtschaft und somit die Inzestverhütung so unsicher
werden, daß man eine andere Fundierung des Verbots nicht mt-
behren kann. Es ist darum nicht überflüssig zu bemerken, daß die
Sitten der Australier soziale Bedingungen und festliche Gelegen^
heiten anerkennen, bei denen das ausschließliche Eheanrecht eines
Mannes auf ein Weib durchbrochen wird.
Der Sprachgebrauch dieser australischen Stämme * weist eine
Eigentümlichkeit auf, welche unzweifelhaft in diesen Zusammenhang
gehört. Die Verwandtschaftsbezeichnungen nämlich, deren sie sich
bedienen, fassen nicht die Beziehung zwischen zwei Individuen,
sondern zwischen einem Individuum und einer Gruppe ins Auge,-
sie gehören nach dem Ausdrucke L. H, Morgan's dem
»K lassifizierenden« System an. Das will heissen, ein
Mann nennt »Vater« nicht nur seinen Erzeuger, sondern auch
jeden anderen Mann, der nach den Stammessatzungen seine Mutter
hätte heiraten und so sein Vater hätte werden können,- er nennt
»Mutter« jede andere Frau neben seiner Gebärerin, die ohne Ver^
letzung der Stammesgesetze seine Mutter hätte werden können,- er
heißt »Brüder«, »Schwestern« nicht nur die Kinder seiner wirklichen
Eltern, sondern auch die Kinder all der genannten Personen, die in
der elterlichen Gruppenbeziehung zu ihm stehen usw. Die Ver-
wandtschaftsnamen, die zwei Australier einander geben, deuten also
nicht notwendig auf eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen hin,
wie sie es nach unserem Sprachgebrauche müßten,- sie bezeichnen
vielmehr soziale als physische Beziehungen. Eine Annäherung an
dieses klassifikatorische System findet sich bei uns etwa in der
Kinderstube, wenn das Kind veranlaßt wird, jeden Freund und
jede Freundin der Eltern als »Onkel« und »Tante« zu begrüßen,
oder im übertragenen Sinn, wenn wir von »Brüdern in Apoll«,
»Schwestern in Christo« sprechen.
* Sowie der meisten Totemvölker.
Die klassifizie-
renden Ver-
wandtschafts-
Namen.
23
ist blutsverwandt, ist eine Familie, und in dieser Familie werden
die entferntesten Verwandtschaftsgrade als absolutes Hindernis der
sexuellen Vereinigung anerkannt.
So zeigen uns denn diese Wilden einen ungewohnt hohen
Grad von Inzestscheu oder Inzestempfindlichkeit, verbunden mit der
von uns nicht gut verstandenen Eigentümlichkeit, daß sie die reale
Blutsverwandtschaft durch die Totemverwandtschaft ersetzen. Wir
dürfen indes diesen Gegensatz nicht allzusehr übertreiben und wollen
im Gedächtnis behalten, daß die Totemverbote den realen Inzest
als Spezialfall miteinschließen.
Auf welche Weise es dabei zum Ersatz der wirklichen
Familie durch die Totemsippe gekommen, bleibt ein Rätsel, dessen
Lösung vielleicht mit der Aufklärung des Totem selbst zusammen-
fällt. Man müßte freilich daran denken, daß bei einer gewissen, über
die Eheschranken hinausgehenden Freiheit des Sexual Verkehrs die
Blutsverwandtschaft und somit die Inzestverhütung so unsicher
werden, daß man eine andere Fundierung des Verbots nicht mt-
behren kann. Es ist darum nicht überflüssig zu bemerken, daß die
Sitten der Australier soziale Bedingungen und festliche Gelegen^
heiten anerkennen, bei denen das ausschließliche Eheanrecht eines
Mannes auf ein Weib durchbrochen wird.
Der Sprachgebrauch dieser australischen Stämme * weist eine
Eigentümlichkeit auf, welche unzweifelhaft in diesen Zusammenhang
gehört. Die Verwandtschaftsbezeichnungen nämlich, deren sie sich
bedienen, fassen nicht die Beziehung zwischen zwei Individuen,
sondern zwischen einem Individuum und einer Gruppe ins Auge,-
sie gehören nach dem Ausdrucke L. H, Morgan's dem
»K lassifizierenden« System an. Das will heissen, ein
Mann nennt »Vater« nicht nur seinen Erzeuger, sondern auch
jeden anderen Mann, der nach den Stammessatzungen seine Mutter
hätte heiraten und so sein Vater hätte werden können,- er nennt
»Mutter« jede andere Frau neben seiner Gebärerin, die ohne Ver^
letzung der Stammesgesetze seine Mutter hätte werden können,- er
heißt »Brüder«, »Schwestern« nicht nur die Kinder seiner wirklichen
Eltern, sondern auch die Kinder all der genannten Personen, die in
der elterlichen Gruppenbeziehung zu ihm stehen usw. Die Ver-
wandtschaftsnamen, die zwei Australier einander geben, deuten also
nicht notwendig auf eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen hin,
wie sie es nach unserem Sprachgebrauche müßten,- sie bezeichnen
vielmehr soziale als physische Beziehungen. Eine Annäherung an
dieses klassifikatorische System findet sich bei uns etwa in der
Kinderstube, wenn das Kind veranlaßt wird, jeden Freund und
jede Freundin der Eltern als »Onkel« und »Tante« zu begrüßen,
oder im übertragenen Sinn, wenn wir von »Brüdern in Apoll«,
»Schwestern in Christo« sprechen.
* Sowie der meisten Totemvölker.
Die klassifizie-
renden Ver-
wandtschafts-
Namen.