Zur Psychologie des Tragischen.
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unserer Seele. Den äußeren Ausdruck findet dieser Umstand in der
dialogischen Gestaltung der modernen Rechtssprechung: der Staats^-
anwalt verkörpert die »Zensur«, der Verteidiger vertritt die Interessen
der »bösen« Triebe.
Zuletzt ist noch die Frage zu erörtern, wie die wunscherfüllende
Vision in ihrer mimisch=plastischen Leibhaftigkeit zustande kommt,
d. h, wie es dazu kommt, daß unsere Wünsche Fleisch und Blut
bekommen ?
Die wunscherfüllende Tätigkeit der Phantasie wirkt nadt Ge-
setzen, die dem gesamten psychischen Leben eigentümlich sind. Ein
Grundgesetz des seelischen Lebens ist nämlich, daß jeder Teil
eines Gesamterlebnisses die übrigen Teile zu
reproduzieren bestrebt ist. (Gesetz der Assoziation.) Die
verschiedenen »Teile« sind eigentlich nur Phasen eines einheitlichen
seelischen Prozesses. Wir können das Vorherige darum auch folgen^
dermaßen aussprechen: ein beginnender psychischer
Prozeß ist immer bestrebt, sich vollständig abzu-
wickeln. Diese Tendenz wird immer verwirklicht, so lange keine
Gegentendenzen vorhanden sind, die die erste im Gleichgewicht
halten. Die Vorstellung eines Dinges A hat an und für sich die
Tendenz in die Wahrnehmung des Dinges A überzugehen. Dem
abersteht gewöhnlich im Wege die Gegentendenz: Die »Wirklichkeit«
des Dinges A nur unter bestimmten Umständen anzuerkennen.
Wenn aber die Gegentendenz, der »Wirklichkeitssinn« — ein eigen-
tümlicher Bestandteil der »Zensur« —, dank irgend welchen Umständen
abgeschwächt sei, so kann die erste Tendenz voll in Kraft treten
und zur Vision bringen. Die Vision wird somit möglich, wenn eine
psychische Tendenz von den Gegentendenzen sich möglichst loslöst,
»dissoziiert«. (Th. Lipps.)
Wir wollen hier einen konkreten Fall betrachten. Ein Herr
N. N. hat eines Tages die Nachricht bekommen, daß sein Freund
X. durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gemacht hat. Diese
Nachricht hat ihm eine ihm sehr nahe stehende Person, die er schon
längere Zeit nicht gesehen hatte, überbracht. Die Freude des Wieder-
sehens hat N. N. am Tage gehindert, über die traurige Nachricht
nachzudenken. Als er sich Nachts zum Schlafen hinlegte, sah er an der
gegenüberliegenden Ecke des Zimmers seinen Freund X. stehen.
Das Zimmer war nur durch den Mondschein schwach beleuchtet.
Die Vision dauerte einige Sekunden, trat aber in voller Deutlichkeit
und plastischer Leibhaftigkeit vor ihn. Sie war die einzige Möglich-
keit seinen verstorbenen Freund wiederzusehen, mit dem er von
der Kindheit an eng verbunden war. Am Tage konnte sich die
unbewußte Sehnsucht nach dem Freunde nicht genügend von allen
Gegentendenzen, insbesondere derjenigen des »Wirklichkeitssinnes«
dissozieren. Erst spät abend nach einem Tage verschiedener
ermüdender Erlebnisse, ist die Kritik des »Wirklichkeitssinnes«
erlahmt und somit wurde die Möglichkeit für die Entstehung der
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unserer Seele. Den äußeren Ausdruck findet dieser Umstand in der
dialogischen Gestaltung der modernen Rechtssprechung: der Staats^-
anwalt verkörpert die »Zensur«, der Verteidiger vertritt die Interessen
der »bösen« Triebe.
Zuletzt ist noch die Frage zu erörtern, wie die wunscherfüllende
Vision in ihrer mimisch=plastischen Leibhaftigkeit zustande kommt,
d. h, wie es dazu kommt, daß unsere Wünsche Fleisch und Blut
bekommen ?
Die wunscherfüllende Tätigkeit der Phantasie wirkt nadt Ge-
setzen, die dem gesamten psychischen Leben eigentümlich sind. Ein
Grundgesetz des seelischen Lebens ist nämlich, daß jeder Teil
eines Gesamterlebnisses die übrigen Teile zu
reproduzieren bestrebt ist. (Gesetz der Assoziation.) Die
verschiedenen »Teile« sind eigentlich nur Phasen eines einheitlichen
seelischen Prozesses. Wir können das Vorherige darum auch folgen^
dermaßen aussprechen: ein beginnender psychischer
Prozeß ist immer bestrebt, sich vollständig abzu-
wickeln. Diese Tendenz wird immer verwirklicht, so lange keine
Gegentendenzen vorhanden sind, die die erste im Gleichgewicht
halten. Die Vorstellung eines Dinges A hat an und für sich die
Tendenz in die Wahrnehmung des Dinges A überzugehen. Dem
abersteht gewöhnlich im Wege die Gegentendenz: Die »Wirklichkeit«
des Dinges A nur unter bestimmten Umständen anzuerkennen.
Wenn aber die Gegentendenz, der »Wirklichkeitssinn« — ein eigen-
tümlicher Bestandteil der »Zensur« —, dank irgend welchen Umständen
abgeschwächt sei, so kann die erste Tendenz voll in Kraft treten
und zur Vision bringen. Die Vision wird somit möglich, wenn eine
psychische Tendenz von den Gegentendenzen sich möglichst loslöst,
»dissoziiert«. (Th. Lipps.)
Wir wollen hier einen konkreten Fall betrachten. Ein Herr
N. N. hat eines Tages die Nachricht bekommen, daß sein Freund
X. durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gemacht hat. Diese
Nachricht hat ihm eine ihm sehr nahe stehende Person, die er schon
längere Zeit nicht gesehen hatte, überbracht. Die Freude des Wieder-
sehens hat N. N. am Tage gehindert, über die traurige Nachricht
nachzudenken. Als er sich Nachts zum Schlafen hinlegte, sah er an der
gegenüberliegenden Ecke des Zimmers seinen Freund X. stehen.
Das Zimmer war nur durch den Mondschein schwach beleuchtet.
Die Vision dauerte einige Sekunden, trat aber in voller Deutlichkeit
und plastischer Leibhaftigkeit vor ihn. Sie war die einzige Möglich-
keit seinen verstorbenen Freund wiederzusehen, mit dem er von
der Kindheit an eng verbunden war. Am Tage konnte sich die
unbewußte Sehnsucht nach dem Freunde nicht genügend von allen
Gegentendenzen, insbesondere derjenigen des »Wirklichkeitssinnes«
dissozieren. Erst spät abend nach einem Tage verschiedener
ermüdender Erlebnisse, ist die Kritik des »Wirklichkeitssinnes«
erlahmt und somit wurde die Möglichkeit für die Entstehung der