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Dr. Alphonse Maeder
der »geraden Linie«, das unentwickelte Mädchen <the Girl) bleibt
das Ideal für das ganze Leben der englischen Frau,- mit 50 Jahren
will sie noch weiße, kurze Kleider tragen, sie behält den jugend-
lichen Gang. Die moderne Frauenmode stimmt diesem Geschmadc
bei. Es ist daran zu erinnern, daß die berühmte englische Maler-
schule des 19. Jahrhunderts ihr Frauenideal in den Madonnen der
Praeraphaelitenschule (Botticelli) gefunden hat.
Ein Blich in die Gemäldegalerien in London kann diesen Ein*
drudc nur bestätigen. Runde üppige Formen, starke Figuren wählen
die dortigen Maler fast nie als Modell. Der Rübe ns-Typus des
Weibes ist absolut nicht vertreten. Die Wahl des »Girl« als Frauen*
ideal ist charakteristisch für die starke S ex u a 1 v er dr än g u ng im
heutigen England. Es bedeutet ein Stillstehen auf einer »praesexuellen
Stufe«, unmittelbar vor der Reife. Die starke Brust, die Rundungen
der Hüften werden als »disgusting«, ekelhaft empfunden,- eine Reaktion
mancher hysterischen Frau in unseren Gegenden, welche den Psycho*
analytikern wohl bekannt ist. Ein guter Teil des Geheimnisses des
Nichtessenwollens der Mädchen stedct dahinter. Die Engländerin
scheint den Sinn für das Natürliche viel mehr verloren zu haben,
wie unsere deutsche Hausfrau zum Beispiel. Das berühmte Londoner
Madonnenbäld B o 11 i c e 11 i's (NationaLGallery), welches die
Madonna stillend darstellt, wurde von vielen gebildeten Damen als
»disgusting« (und zwar wegen des Stillens) bezeichnet. Von Kindern
darf man überhaupt nicht reden, es ist unanständig, man soll am
besten keine haben. Die Mädchenjahre werden als die schönsten
betrachtet. Ich hatte den Eindruck, daß viele nicht gerne heiraten
oder möglichst lange warten. Auf das Liebesspiel in Gestalt des
»Flirt« verzichtet allerdings das englische Mädchen nicht, im Gegen*
teil. Der Flirt ist aber nicht mehr das Vorspiel zur Liebe, sondern
wird als Selbstzweck getrieben. Die Bewohner des Festlandes haben
große Mühe, die englische Frau in der Hinsicht zu verstehen.
Über den zweiten Typus der Frau, die Puppe, kann ich
wenig berichten. Sie ist ein extremer Typus unseres verwöhnten
Kindes, wie er hier in diesem Maße sehr selten ist. Es handelt
sich wohl um ein ausgesprochenes Zurüdcbleiben auf einer infantilen
Stufe, wobei ein ausgesprochener Grad von Geziertheit, LInnatür*
lidhkeit erreicht wird. Der Körperbau ist auffallend zart, die Figur
schlank. Die englische Puppe macht keinen lebendigen Eindruck
(deswegen Puppe genannt), sie kommt einem vielmehr wie ein niedliches
Spielzeug vor.
Die obigen Angaben stimmen sehr gut zum Bilde der Sexual*
Verdrängung, wie wir sie aus der individualpsychologischen Forschung
kennen. Es ist übrigens genügend bekannt, daß eine besondere
Schamhaftigkeit, ja Prüderie, in England allgemein herrscht. Ein
zweimonatiger Aufenthalt in puritanischen Kreisen war für mich
eine täglidie Gelegenheit, mich dessen zu vergewissern. R e 1 i g i o n
und Sexualität zeigen dabei die gewohnte Verknüpfung,- die
Dr. Alphonse Maeder
der »geraden Linie«, das unentwickelte Mädchen <the Girl) bleibt
das Ideal für das ganze Leben der englischen Frau,- mit 50 Jahren
will sie noch weiße, kurze Kleider tragen, sie behält den jugend-
lichen Gang. Die moderne Frauenmode stimmt diesem Geschmadc
bei. Es ist daran zu erinnern, daß die berühmte englische Maler-
schule des 19. Jahrhunderts ihr Frauenideal in den Madonnen der
Praeraphaelitenschule (Botticelli) gefunden hat.
Ein Blich in die Gemäldegalerien in London kann diesen Ein*
drudc nur bestätigen. Runde üppige Formen, starke Figuren wählen
die dortigen Maler fast nie als Modell. Der Rübe ns-Typus des
Weibes ist absolut nicht vertreten. Die Wahl des »Girl« als Frauen*
ideal ist charakteristisch für die starke S ex u a 1 v er dr än g u ng im
heutigen England. Es bedeutet ein Stillstehen auf einer »praesexuellen
Stufe«, unmittelbar vor der Reife. Die starke Brust, die Rundungen
der Hüften werden als »disgusting«, ekelhaft empfunden,- eine Reaktion
mancher hysterischen Frau in unseren Gegenden, welche den Psycho*
analytikern wohl bekannt ist. Ein guter Teil des Geheimnisses des
Nichtessenwollens der Mädchen stedct dahinter. Die Engländerin
scheint den Sinn für das Natürliche viel mehr verloren zu haben,
wie unsere deutsche Hausfrau zum Beispiel. Das berühmte Londoner
Madonnenbäld B o 11 i c e 11 i's (NationaLGallery), welches die
Madonna stillend darstellt, wurde von vielen gebildeten Damen als
»disgusting« (und zwar wegen des Stillens) bezeichnet. Von Kindern
darf man überhaupt nicht reden, es ist unanständig, man soll am
besten keine haben. Die Mädchenjahre werden als die schönsten
betrachtet. Ich hatte den Eindruck, daß viele nicht gerne heiraten
oder möglichst lange warten. Auf das Liebesspiel in Gestalt des
»Flirt« verzichtet allerdings das englische Mädchen nicht, im Gegen*
teil. Der Flirt ist aber nicht mehr das Vorspiel zur Liebe, sondern
wird als Selbstzweck getrieben. Die Bewohner des Festlandes haben
große Mühe, die englische Frau in der Hinsicht zu verstehen.
Über den zweiten Typus der Frau, die Puppe, kann ich
wenig berichten. Sie ist ein extremer Typus unseres verwöhnten
Kindes, wie er hier in diesem Maße sehr selten ist. Es handelt
sich wohl um ein ausgesprochenes Zurüdcbleiben auf einer infantilen
Stufe, wobei ein ausgesprochener Grad von Geziertheit, LInnatür*
lidhkeit erreicht wird. Der Körperbau ist auffallend zart, die Figur
schlank. Die englische Puppe macht keinen lebendigen Eindruck
(deswegen Puppe genannt), sie kommt einem vielmehr wie ein niedliches
Spielzeug vor.
Die obigen Angaben stimmen sehr gut zum Bilde der Sexual*
Verdrängung, wie wir sie aus der individualpsychologischen Forschung
kennen. Es ist übrigens genügend bekannt, daß eine besondere
Schamhaftigkeit, ja Prüderie, in England allgemein herrscht. Ein
zweimonatiger Aufenthalt in puritanischen Kreisen war für mich
eine täglidie Gelegenheit, mich dessen zu vergewissern. R e 1 i g i o n
und Sexualität zeigen dabei die gewohnte Verknüpfung,- die