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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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I.3
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Freud, Sigmund: Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0234

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226

Sigm. Freud

Es ist ebenso klar, wieso die Übertretung gewisser Tabu-
verbote eine soziale Gefahr bedeutet, die von allen Mitgliedern der
Gesellschaft gestraft oder gesühnt werden muß, wenn sie nicht alle
schädigen soll. Diese Gefahr besteht wirklich, wenn wir die bewußten
Regungen für die unbewußten Gelüste einsetzen. Sie besteht in der
Möglichkeit der Nachahmung, in deren Folge die Gesellschaft bald
zur Auflösung käme. Wenn die anderen die Übertretung nicht
ahnden würden, müßten sie ja inne werden, daß sie dasselbe tun
wollen wie der Übeltäter.
Daß die Berührung beim Tabuverbot eine ähnliche Rolle spielt
wie beim Delire de toucher, obwohl der geheime Sinn des Ver^
botes beim Tabu unmöglich ein so spezieller sein kann wie bei der
Neurose, darf uns nicht Wunder nehmen. Die Berührung ist der
Beginn jeder Bemächtigung, jedes Versuches, sich eine Person oder
Sache dienstbar zu machen.
Wir haben die ansteckende Kraft, die dem Tabu innewohnt,
durch die Eignung, in Versuchung zu führen, zur Nachahmung
anzuregen, übersetzt. Dazu scheint es nicht zu stimmen, daß sich
die Ansteckungsfähigkeit des Tabu vor allem in der Übertragung
auf Gegenstände äußert, die dadurch selbst Träger des Tabu werden.
Diese Übertragbarkeit des Tabu spiegelt die bei der Neurose
nachgewiesene Neigung des unbewußten Triebes wieder, sich auf
assoziativen Wegen auf immer neue Objekte zu verschieben. Wir
werden so aufmerksam gemacht, daß der gefährlichen Zauberkraft
des »Mana« zweierlei realere Fähigkeiten entsprechen, die Eignung,
den Menschen an seine verbotenen Wünsche zu erinnern, und die
sdieinbar bedeutsamere, ihn zur Übertretung des Verbotes im Dienste
dieser Wünsche zu verleiten. Beide Leistungen treten aber wieder
zu einer einzigen zusammen, wenn wir annehmen, es läge im Sinne
eines primitiven Seelenlebes, daß mit der Erweckung der Erinnerung
an das verbotene Tun auch die Erweckung der Tendenz, es durch-
zusetzen, verknüpft sei. Dann fallen Erinnerung und Versuchung
wieder zusammen. Man muß auch zugestehen, wenn das Beispiel
eines Menschen, der ein Verbot übertreten hat, einen anderen zur
gleichen Tat verführt, so hat sich der Ungehorsam gegen das Ver^
bot fortgepflanzt wie eine Anstedcung, wie sich das Tabu von einer
Person auf einen Gegenstand, und von diesem auf einen anderen
überträgt.
Wenn die Übertretung eines Tabu gutgemacht werden kann
durch eine Sühne oder Buße, die ja einen Verzicht auf irgend ein
Gut oder eine Freiheit bedeuten, so ist hiedurch der Beweis erbracht,
daß die Befolgung der Tabuvorschrift selbst ein Verzicht war auf
etwas, was man gerne gewünscht hätte. Die LInterlassung des einen
Verzichts wird durch einen Verzicht an anderer Stelle abgelöst.
Für das Tabuzeremoniell würden wir hieraus den Schluß ziehen,
daß die Buße etwas ursprünglicheres ist als die Reinigung.
Fassen wir nun zusammen, welches Verständnis des Tabu sich
 
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