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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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I.4
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Blüher, Hans: "Niels Lyhne" von J. P. Jakobsen und das Problem der Bisexualität
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0399

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»Niels Lyhne

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Theodor Wolff in der Reklambibliothek, — Niels ist der Sohn eines
mehr zum Praktischen neigenden Vaters und einer Mutter, die der
Poesie ergeben ist. Das mütterliche Erbteil ist in seiner Seele das
entscheidende, aber es ist kein wirklicher Schatz, den er vermehren
kann,- dazu fehlt ihm die Entscheidung: »ein Dichter, der kein Dichter
ist,« nennt ihn Jakobsen in einem Brief. Er fühlt sich unsicher auf
den Wegen der Phantasie, die die Mutter ihm weist, und wenn
dies so recht über ihn kommt, dann sucht er den Vater auf. »Er
fühlte sich dann so wohl beim Vater, war so froh, daß er seines^
gleidien war und vergaß beinahe, daß dies derselbe Vater, auf den
er von den Zinnen seines Traumschlosses voll Mitleid herabgesehen
hatte.« <S. 41.) Der Vater ist ihm ein Eleilmittel gegen die Mutter und
gegen das träumerische Wesen, das er von ihr ererbt hat, aber
diesen Weg geht er doch »mit dem Bewußtsein, daß er einem un-
edlen Instinkte folge.« <S. 41.) Also es ist das S c h 1 e c h t e r e, was
er beim Vater sucht, wenn er sich im Besseren nicht halten kann.
Daß dieses Anlehnen an den Vater von einem tiefer liegenden Trieb-
vorgange bedingt wird, läßt uns der Dichter in den feinen Worten
fühlen, die in so plastischer Weise das Wesen des »Unbewußten«
und sein Eintreten in die Bewußtheit darstellen : »es war wie die
wundersame Vegetation des Meergrundes durch fahles Eis gesehen,-
schlagt das Eis in Stiidce oder zieht das im Dunkeln Lebende an
das Licht des Wortes : stets geschieht das gleiche — das, was Ihr
dann sehen und greifen könnt, ist in seiner Klarheit nicht das
Dunkle, was vorher gewesen.« <S. 41.) Dies klingt fast wie eine ab-
sichtliche poetische Darstellung der Lehre Freuds vom Unbewußten und
doch ist ein Zusammenhang hier nicht möglich, da Jakobsen schon tot
war, ehe die Hauptsdiriften Freuds erschienen. — Wir bemerken
also bei Niels in seiner Kindheit ein deutliches Schwanken zwischen
Vater und Mutter. Sein späteres zwischen Mann und Weib ist
hierin vorgebildet,- man vergesse, um die Analogie vollgiltig zu
machen, nicht, daß dieses Schwanken durch wirkliche innere Bedürf-
nisse wichtiger Art begründet wird und keineswegs durch das bloße
Spielen mit der Abwechslung.
Nun kommt das Knabenalter, und in ihm wiederholt sich das-
selbe in klareren Formen, und zwar in solchen, die das Liebesieben
zu Tage treten lassen. Er erlebt zwei entscheidende erotische Vor-
gänge. Die Schwester seines Vaters, ein blühendes Mädchen, kommt
aus Kopenhagen zurück, um sich von ihren gesellschaftlichen Stra-
pazen zu erholen, — »Nichts konnte unangreifbarer und korrekter sein
als ihr Auftreten. In dem was sie sagte und was sie sidi sagen ließ,
hielt sie sich innerhalb der Grenzen der strengsten Sprödigkeit, und
ihre Koketterie bestand darin, daß sie sich nicht im mindesten kokett
zeigte, daß sie unheilbar blind für den Eindruck war, den sie her-
vorrief und zwischen ihren Anbetern nicht den geringsten Unter-
schied machte. Aber gerade deshalb träumten sie alle berauschende
Träume von dem Antlitz, das sich hinter der Maske befinden müsse.
 
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