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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 9.1923

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Heft 1
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Jones, Ernest: Eine psychoanalytische Studie über den Heiligen Geist
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https://doi.org/10.11588/diglit.28544#0070

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In der christlichen Mythologie begegnen wir einer überraschenden
Tatsache. Es ist die einzige Mythologie, in der die ursprünglichen
Figuren nicht fortbestehen, in welcher die zu verehrende Drei-Einig-
keit nicht mehr in Mutter-Vater-Sohn besteht. Vater und Sohn er-
scheinen zwar noch immer, aber die Mutter, die Ursache des ganzen
Konfliktes, ist durch die rätselhafte Gestalt des Heiligen Geistes er-
setzt worden.
Es scheint unmöglich, zu irgend einem anderen Resultat als zu dem
soeben ausgesprochenem zu gelangen. Die Mutter muß nicht nur
logischer weise das dritte Glied jeder Dreieinigkeit ausmachen, deren
beide anderen Glieder Vater und Sohn sind, dies ist nicht nur in all
den anderen zahlreichen uns bekannten Dreieinigkeiten so, sondern
es besteht auch eine beträchtliche Anzahl von direkten Beweisen, daß
dies ursprünglich im christlichen Mythus der Fall war. Frazer* hat
einige Beweise zu diesem Zweck gesammelt und läßt diese Folgerung
auf historischer Basis allein höchstwahrscheinlich erscheinen. Die ur-
sprüngliche Mutter, die z. B. von der ophitischen Sekte als das dritte
Glied der Dreieinigkeit anerkannt wurde, war scheinbar von baby-
lonischem und ägyptischem Ursprung, obzwar es an Hinweisen darauf
nicht fehlt, daß eine nebelhafte Muttergestalt auch im Hintergrund
der hebräischen Theologie schwebt. So sollte die Stelle in der Genesis:
„Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern" eigentlich heißen:
„Die Mutter der Götter brütete (oder flatterte) über dem Abgrund
und brachte neues Leben hervor", eine vogelartige Auffassung der
Mutter, die uns nicht nur an die Heilige Taube erinnern muß, (d. h. der
Heilige Geist, der die Mutter ersetzt), sondern auch an die Sage, daß
Isis Horus empfing, während sie in der Gestalt eines Habichts über
den toten Körper des Osiris flatterte.
Während die streng patriarchalische hebräische Theologie die Mutter
jedoch zu einer untergeordneten Rolle und den Messias-Sohn in eine
ferne Zukunft verbannte, behielt sie nichts destoweniger die normale

1) Frazer: The Dying God. 1911. S. g.
 
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