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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 11.1900

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Graevèll, A.: Die Grundlagen der künftigen Entwickelung des Stils in der dekorativen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.6712#0160

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eine Kunst, die nicht losgelöst ist von aller künstlerischen
Tradition, die uns nicht zwingt, den Geist in die Formenfluth
einer uns fremden Zeit zu tauchen, sondern die künstlerische
Wahrhaftigkeit, Knappheit und Sachlichkeit mit den einfachsten
Mitteln zu erreichen sucht und darum gleichzeitig den Kunst-
gegenständen die vollkommenste Zweckerfüllung ermöglicht.

»Heute trennt eine tiefe Kluft das Handwerk von
der Kunst; die grosse Masse der Handwerker ist zu rein
mechanisch arbeitenden Verfertigern von Massen - Artikeln,
zu einem Anhängsel der Maschine geworden«. Und es ist
leider wahr, was mir kürzlich ein bekannter Kunst-Kritiker
schrieb: »Ja, wenn man unsere Handwerker nur zur Unter-
scheidung von konstruktivem und nicht konstruktivem Stil
zu bringen vermöchte! Aber gerade das können sie nicht,
weil ihnen überhaupt das Verständniss für Sach-Stil nie an-
erzogen worden ist; sie sind alle nur gedrillt worden in
historischen Stil-Unterschieden.« Doch aber erwartet schon
Walter Crane das Heil »von einer echten Volkskunst, die
mit dem Handwerk innig verbunden ist und nicht im Bunde
mit, sondern im Kampfe gegen die modernen wirthschaftlichen
Grossmächte sich behaupten und neu erstarken kann«. Und
auch Ruskin erblickt in der Rückführung des gewerblichen
Schaffens auf den alten, einfachen Boden des Handwerks die erste
Vorbedingung, nicht nur zu einem gedeihlichen Kunstgewerbe,
sondern auch zu würdigen sozialen Zuständen zurückzukehren«.

Gerade jene Kluft, die die »gedrillten« Handwerker trennt
von den »freischaffenden « Künstlern — sie ist zu überbrücken
auf die oben gekennzeichnete Art und Weise eines gemein-
samen Rathens und Thatens bei der Erschaffung neuer Kunst-
formen. Wenn die Künstler die Handwerker wieder zu
Rathe ziehen, wenn sie nicht nur im Atelier die Möbel

zeichnen, sondern zugegen sind, wenn der Meister sie in der
Werkstatt baut, wenn sie gemeinsam mit ihm erwägen, wie
die Form dem praktischen Gebrauch dienstbar gemacht
werden kann, dann wird — wie jede Kraft durch sich selbst
wächst — auch die Kraft des Handwerks durch die aktive
Bethätigung am Kunstschaffen wieder wachsen, und die Hand-
werker werden unterscheiden lernen, was konstruktiv und was
nicht konstruktiv für den Stil ist; und das ist das wichtigste
Moment für die Herausbildung eines neuen Stils.

Wird auf diese Weise in der dekorativen Kunst ver-
fahren , wird unser gesammtes Mobiliar hinsichtlich seiner
Konstruktion zu Neubildungen überführt, dann wird der »neue
Stil« auch die Architekten nöthigen, von ihrem Schematismus
des rechten Winkels und der geraden Linie, die — wie
Camillo Sitte sagt — »keine Begeisterung aufkommen lässt«,
abzugehen und zu einer der künstlerischen Freiheit Spielraum
lassenden deutschthümlicJien Bauweise überzugehen, die frei-
lich ein anderes Gesicht haben wird, als die heute en masse
fabrizirten Landhäuser ohne jeden persönlichen Karakter.

Es ist merkwürdig, dass selbst sehr niedrig organisirte
Thiere ihren Wohnungen eine vielseitigere Form geben, als
der organisch so hoch kultivirte Mensch, der unbedenklich
sich in würfelige Kasten einschachteln lässt. Und doch
sträubt sich unser Gefühl, ihn in seinen hülflosen Lagen, beim
Eintritt ins Leben, wie beim Austritt aus demselben, in solche
Kisten zu betten: Wiege und Sarg zimmern wir nicht im
Schachtel - Stile unserer Wohnungen. Nur den lebenden
Menschen mit seinem göttlichen Geiste wollen wir in Kisten
verpacken? »Das Wachsthum des Lebenden, nicht das
Krystallinische der anorganischen Natur«, sagt Schmarsow,
muss in der Menschenwohnung verkörpert werden.« —
 
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