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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 11.1900

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Klien, Rudolf: Kultur und Kunst - Weltausstellungs-Betrachtungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6712#0164

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Seite 122.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

August-Heft.

Leon Bochoms, Verviers.

Aus einem Musik-Zimmer.

Individuum vollends hinter der Allgemeinheit zurücktritt. An
Stelle des Pseudo-Klassizismus könnte man daher — um im
psychologischen Sinne den Vergleich aufrecht zu erhalten -
eine pseudo-gothische Epoche setzen. Wie nun im Mittelalter
auf die Zeit der gothischen Kultuskunst eine romantische
Periode folgt, vor allem in dem kulturschwangeren Italien,
so folgt auch zu Beginn des ig. Jahrhunderts auf die Epoche
des kalten, toten Klassizismus eine Epoche lebens- und
genussfroher Romantik. Und wie dann im 15. Jahrhundert
in der Zeit der grossen Entdeckungen auf die Romantik der
Realismus folgt, so folgt auch im 19. Jahrhundert auf die Zeit
der Romantik mit den naturwissenschaftlichen Entdeckungen
der künstlerische Realismus. Und wie dann im weiteren
Verlauf mit Rafael, Holbein und schliesslich mit Rembrandt
zum zweiten Mal der äusserliche Realismus abgelöst wird
durch eine Kunst, in der das subjektive Empfinden vollends
das Objekt durchdringt und, in demselben aufgehend, eine
Kunst schafft, in der das Allgemein-Menschliche zu verklärter
Höhe emporgeläutert wird, so gehen auch aus dem äusser-
lichen Realismus im 19. Jahrhundert einige Künstler hervor,
bei denen dies der Fall ist, man denke an Millet, Meunier,
Böcklin, Thoma. Und wie dann auf die Zeiten der Hoch-
renaissance mit dem Rokoko die Auflösung der Kunst folgt,
so finden wir auch Ende des 19. Jahrhunderts eine roman-
tische Kunstströmung, die äusserlich sich zwar mittelalterlich
gebärdet, psychologisch betrachtet aber dem niedergehenden
Kunst- und Kulturglied des Rokoko verwandt ist. —

So ist das 19. Jahrhundert, psychologisch betrachtet, in
seiner Kunstentwickelung ein Repetitionszug der Kunstwand-
lung des letzten Jahrtausends. Aber dass es dies ist, und dass

in ihm jene Künstler so selten sind, deren Werke man, sub-
specie aeternitatis betrachten kann, und dass in ihm die
Kunst meist weltanschauungslos dem äusserlichen, kleinlichen
Naturalismus gehuldigt, das Hegt an seinem Geist, der nach
der italienischen Renaissance mit Luther in die Weltgeschichte
seinen Einzug hielt und der eine Kette bildet von Luther bis
zu den Encyklopädisten, zu David Strauss und Feuerbach,
zum reinsten Materialismus und Atheismus —: welche Ent-
wickelung unvermeidlich war. Es ist jener mit Luthers Prokla-
mation des Rechtes des Einzelnen eingetretene Individualismus,
der bis zu einer beinahe vollständigen Verwirrung und Zer-
splitterung des Einzelnen geführt und so die Kunst jenem
auflösenden Individualismus schliesslich entgegengeführt hat,
in dem sie am Ende des 19. Jahrhunderts zu verwildern schien.

Im Alterthum hielt die »polis« die Individuen zusammen.
Der Mytos war die Grundlage jener durchaus ««-individuellen,
antiken Kulturkunst. Als dann aber, mit der Verweichlichung
durch den Luxus, den die politische Blüthe und Macht noth-
wendig heraufgeführt, die Instinkte verwilderten, steht Sokrates
auf, sie zu bekämpfen. Statt seiner jedoch trat das Christen-
thum seine Herrschaft an. Diese Kulturperiode erreicht in
der Gothik zum ersten Mal ihren Höhepunkt. Dann beginnt
sich mit dem Humanismus das Individuum abermals zu lösen,
doch hält der einheitliche, geistige Kultus, die Macht der
Kirche die Künstler geistig noch so zusammen, dass die
Kunst nicht in kleinlichem Realismus und Individualismus ver-
wildert, sondern die hohe Kunstblüthe der Hochrenaissance
zeitigt: die ganze Kunst bleibt noch immer Kultuskunst »ad
majorem dei gloriam«: sie ist Gottes-Dienst.

Erst hiernach beginnt die neue Zeit. Als im Alterthum
 
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