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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 40.1924-1925

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Wolf, Georg Jacob: Gotische Charakterköpfe
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https://doi.org/10.11588/diglit.14152#0225

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GOTISCHE CHARAKTERKÖPFE

Fest und klar umrissen steht in der V orstel-
lung des Kunstfreundes der Sinn des Wor-
tes und Begriffes „Gotisch". Die Gotik gipfelt
für ihn in den Domen des Mittelalters und in
den Meisterwerken deutscher Bildschnitzkunst,
die zwischen i420 und 1520 entstanden, also am
Ausgang der gotischen Periode, als über die Al-
pen schon die Y\ ogen der Renaissance, der neuen
Weise in der Kunst, herüberschlugen. Goethe,
der Jüngling in Straßburg, der noch nicht durch
die Sehlde der Antike gegangen war, hat den
Deutschen das Wort „Gotisch" heilig gemacht.
Zwar hat er nichts von der nordfranzösischen
Gotik, die aller Gotik Mutter ist, gewußt, aber
desto unbefangener und aus übervollem Herzen
sprudelnd hat er von der deutschen Gotik, von
der Gotik des Straßburger Münsters und des hei-
ligen, ihm und uns heiligen Erwin von Stein-
bach, geschrieben. Wie es almungsreichen, ge-
nialen Geistern ergeht, denen die weiseste Wahr-
heit auch ohne wissenschaftliche Begründung
zuströmt, so geschah es auch ihm. Er sagt: „Laßt
die Bildnerei aus den willkürlichsten Formen
bestehen, sie wird ohne Gestaltsverhältnis zu-
sammenstimmen, denn eine Empfindung schuf
sie zum charakteristischen Ganzen — und diese
charakteristische Kunst ist die einzige wahre.
Y\ enn sie aus inniger, einiger, eigener, selb-
ständiger Empfindung um sich wirkt, unbe-
kümmert, ja unwissend alles Fremden, da mag
sie aus rauher Wildheit oder aus gebildeter
Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz
und lebendig."

Mit diesen Y\ orten im Bewußtsein muß man
den wundervoll gedruckten und vornehm aus-
gestatteten Band „Gotische Charakterköpfe" in
die Hand nehmen, gründlich ansehen und in
sich aufsaugen, den der Maler und Plastikken-
ner Hubert Wilm in überaus reizvoller Weise
and Anordnung zusammenstellte, einleitete
und erläuterte und der im \ erlag von F. Bruck-
mann A.-G. in München kürzlich erschien.
FIubertY\ ilm sagt in seiner anziehenden, durch-
aus selbständigen einführenden Studie, daß bei
den gotischen Figuren der Kopf der Hauptaus-

HubertAVilm, Gotische Charakterkopfe. Preis M. 15.—. Mün-
chen 1925. Verlag F. Bruckmann A.-G. Die Abbildungen
dieses Aufsatzes sind diesem Buche entnommen.

drucksfaktor sei, daß sich alles auf das Antlitz
konzentriere, das, ob sanft, ob leidenschaftlicb.
von einer Geistigkeit erfüllt sei, deren frühere
und spätere Zeiten ermangeln. In gotischen Köp-
fen ist der bis zur Grimasse gesteigerte, manch-
mal wohl überspitzte, zumeist aber ins Zen-
trum der Individualität treffende und unmittel-
bar zum Herzen sprechende Ausdruck höchster
Kunst und Charakterisierung lebendig, alle
Kraft der Physiognomik ist um sie und über
und in ihnen. In ihrer Gesamtheit, aus allen
deutschen Gauen, zum Teil auch von jenseits der
Grenze herbeigerufen und in diesem Buche ver-
sammelt, wächst die Gemeinschaft sakraler und
profaner gotischer Köpfe über die Einzelindi-
vidualität hinaus zu einer Art von Zeitgenossen-
schaft markanter Typen. Wilm sagt: „In diesen
Gesichtern lesen, heißt dem Geist des Mittel-
alters ins Auge blicken." Nicht im einzelnen
Werk erkennt man dies, aber an der Gesaml-
heit der etwa hundert gotischen Köpfe, denen
vergleichshalber einige romanische und einige
Renaissance-Charaktere beigegeben sind. Sol-
chermaßen wächst das Werk oder vielmehr
wuchs das Unternehmen, dem das Werk ent-
quoll, weit hinaus über eine rein kunsthistori-
sche Angelegenheit, etwa zu zeigen, wie Ba-
cher, Riemenschneider, Grasser, Leinberger.
Schramm und Mauch im Ausdruck differieren,
oder wie sich durch zwei Jahrhunderle die indi-
vidualisierende Charakteristik entwickelte. Hier
liegt, wenigstens in den entscheidenden Grund-
linien, eine aus den menschlichen Charakteren,
wie sie die Gesichtsbildung verrät, sprechende
Zeit- und Kulturgeschichte. Diese Menschen
in ihrem Gesichtsausdruck, in dem sich der
Ausdruck von Menschen ihrer Zeit spiegelt, sind
die Träger des Zeitgedankens und der Zeitstim-
mung des ausgehenden Mittelalters, in ihren
Köpfen erkennt man die Zeichen der Zeit, die
aus der Idee der Kompaktheit und der \ erhar-
rung hinüberleitet zur Bewegung der Renais-
sance, des Humanismus, der Reformation.
Das Buch ist also nicht eine rein kiuisthistori-
sche Leistung, sondern es greift, unbeschadet der
wissenschaftlichen Methode, weiter aus und er-
öffnet Perspektiven in weltgeschich tlicheWeiten.

Wolf

Die Kunst für Alle. XXKX.

201

26
 
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