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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 40.1924-1925

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Burckhardt, Jacob: Venedig am Ende des 15. Jahrhunderts
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https://doi.org/10.11588/diglit.14152#0262

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VENEDIG AM ENDE DES 15. JAHRHUNDERTS

Die Inselstadt \ eiicdig erschien zu Ende des
15. Jahrhunderts wie das Schmuckkäst-
jclien der damaligen Welt. Sabelhco schildert
sie als solches mit ihren uralten Kuppelkirchen,
schiefen Türmen, inknhstierlen Marmorfassaden,
mit ihrer ganz engen Pracht, wo die Vergol-
dung der Decken und die Vermietung jedes
\\ inkels sich miteinander vertrugen. Er führt
uns auf den dichtwogenden Platz vor S. Giaco-
metto am Rialto, wo die Geschäfte einer Welt
sich nicht durch lautes Reden oder Schreien,
sondern nur durch ein vielstimmiges Summen
verraten, wo in den Portiken ringsum und in
denen der anstoßenden Gassen die Wechsler
und die Hunderte von Goldschmieden sitzen,
aber ihren Häuptern Läden und Magazine ohne
linde: jenseits von der Brücke heschreibt er den
großen Foncado der Deutschen, in dessen Hal-
len ihre Waren ruhen und ihre Leute wohnen,
und vor welchem stets Schiff an Schilf im Canal
liegt; von da weiter aufwärts die Wein- und
Ocltlotte, und parallel damit am Strande, wo es
von Facchinen wimmelt, die Gewölbe der Händ-
ler; dann vom Rialto bis auf den Markusplatz
die Parfümeriebuden und Wirtshäuser. So ge-
leitet er den Leser von Quartier zu Quartier
bis hinaus zu den beiden Lazaretten, welche
mit zu den Instituten hoher Zweckmäßigkeit
gehören, die man nur hier so ausgebildet vor-
fand. Fürsorge für die Leute war überhaupt ein
Kennzeichen der Venezianer, im Frieden wie
im Kriege, wo ihre Verpflegung der \ erwun-
deten, selbst der feindlichen, für andere ein
Gegenstand des Erstaunens war. Als ihre poli-
tischen Tugenden werden von einem Zeitge-
nossen aufgezählt: Güte, Unschuld, mildtätige
Liebe. Frömmigkeit, Mitleid.
Was irgend öffentliche Anstalt hieß, konnte in
Y enedig sein Muster finden; auch das Pensions-
wesen wurde systematisch gehandhabt, sogar in
Betreff der Hinterlassenen. Reichtum, politische
Sicherheit und Weltkenntnis hatten hier das
Nachdenken über solche Dinge gereift: Diese
schlanken, blonden, meist kiu-zgescliorenen
I ,eute mit dem leisen, bedächtigen Schritt und
der besonnenen Rede unterschieden sich in
'Fracht und Auftreten nur wenig von einander;
den Putz, besonders Perlen, hingen sie ihren

Frauen und Mädchen an. Damals war das all-
gemeine Gedeihen, trotz großer Verluste durch
die Türken, noch wahrhaft glänzend; aber die
aufgesammelte Energie und das allgemeine Vor-
urteil Europas genügten auch später noch, um
Venedig selbst die schwersten Schläge lange
überdauern zu lassen: die Entdeckung des See-
wegs nach Ostindien, den Sturz der Manier
lukenherrschaft von Ägypten und der Krieg
der Liga von Cambrai.

Sabellico, der an das ungenierte Redewerk der
damaligen Philologen gewöhnt war, bemerkte
mit einigem Erstaunen, daß die jungen Nobili.
welche seine Morgenvorlesungen hörten, sich
gar nicht auf das Politisieren mit ihm einlassen
wollten: „wenn ich sie frage, was die Leute von
dieser oder jener Bewegung in Italien dächten,
sprächen und erwarteten, antworteten sie mir
alle mit einer Stimme, sie wüßten nichts." Man
konnte aber von dem demoralisierten Teil des
Adels trotz aller Staatsinquisition mancherlei
erfahren, nur nicht so wohlfeilen Kaufes. Im
letzten V iertel des 15. Jahrhunderts gab es Ver-
räter in den höchsten Behörden: die Päpste, die
italienischen Fürsten, ja ganz mittelmäßige Con-
dottieren im Dienste der Republik hatten ihre
Zuträger zum Teilmit regelmäßiger Besoldung:
es war soweit gekommen, daß der Rat der Zehn
für gut fand, dem Rat der Pregadi wichtigere
politische Nachrichten zu verbergen, ja man
nahm an. daß 1 «odovico Moro in den Pregadi
über eine ganz bestimmte Stimmzahl verfuge.
Wenn die Feinde Venedigs auf Übelstände
dieser Art jemals ernstliche Hoffanngen a;rüii-
deten, so irrten sie sich gleichwohl. Der Grund
von Venedigs Unerschütterlichkeit liegt in einem
Zusammenwirken von Umständen, die sich sonst
nirgends vereinigten. Unangreifbar als Stadl,
hatte es sich von jeher der auswärtigen Verhält-
nisse nur mit der kühlsten Überlegung ange-
nommen, das Parteiwesen des übrigen Italiens
fast ignoriert, seine Allianzen nur für vorüber-
gehende Zwecke und um möglichst hohen Preis
geschlossen. Der Gruudlon des venezianischen
Gemütes war daher der einer stolzen, ja ver-
achtungsvollen Isolierung und folgerichtig einer
stärkeren Solidarität im Innern.

(Aus Jacob Bnrckhardts „Kultur der Renaissance".)

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