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Illustrirte kunstgewerbliche Zeitschrift für Innendekoration — 10.1899

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R., P.: Der Moderne Stuhl
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https://doi.org/10.11588/diglit.7397#0077

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Seite 54.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitsc

hrift für Innen-Dekoration.

April-Heft.

f

Abb. Nr. 1049. Zier-Schraiik. Entwurf von hans schlicht—dresden.

jeder sich nach seiner Bequemlichkeit setzen kann. Es ent-
stand also die Nachfrage nach neuen Stuhlmodellen, welcher
die Künstlerwelt in ausgiebigster Weise entgegenkam. Was
soll ich noch nacherzählen, wie der Heroldslauf der neuen
Kunst, welche Rückkehr zu Natur, zu Zweck und Material
auf ihre Fahne geschrieben, die jungen Künstler in Schaaren
dem Kunstgewerbe zuströmen Hess, um hier ihre Kräfte zu
bethätigen und den Handwerkern unter die Arme zu greifen.
So nahmen sich denn auch die Künstler des Stuhles an und

fanden zunächst,
dass die Linien-
führung durch-
aus unkünstle-
risch sei. Füsse,
Sitzbrett u.Lehne
bekamen also an-
dere Linien, wie
der Hut der
Philosophie eine
neue Krempe,
an sich blieb es
aber derselbe un-
bequeme Stuhl.
Der Tischler, der
den Stuhl aus-
führen sollte, be-
trachtete sich die
Zeichnung kopf-
schüttelnd von
allen Seiten,
kratzte sich hin-
ter den Ohren
und gab sie dem
Abb. 1050. Entwurf von hans schlicht—Dresden. geschicktesten

Gesellen. Dieser machte sich muthig an die »Linien«, doch
war das nicht so leicht, er ruinirte verschiedene kostbare
Bretter, und als der Meister von Ersatz redete, schnürte er
sein Bündel und ging zu einem anderen Meister, der keine
schnörkelhaften Linien arbeiten lässt. Schliesslich wurde aber
der Stuhl doch fertig — allerdings kostete er 80 Mark, aber
er war modern, wurde als solcher, zumal als deutsches Fabrikat,
gekauft und mit geringen Abänderungen — natürlich nur in
der Linienführung — weiter entworfen und recht theuer her-
gestellt. Denn auch der Künstler hatte alsbald gemerkt, dass
es recht bequem und dankbar ist, wie im Theater ein Kassen-
stück so lange zu bringen, als es noch zieht; in Geldsachen hört
eben nicht nur die Gemüthlichkeit, sondern auch die Kunst auf!

So finden wir denn in unseren vornehmen Salons, in den
zahlreichen modernen Kunst-Ausstellungen verschiedene Arten
von Stühlen, alle in modernen, verschnörkelten Linien, mit

Abb. Nr. 1051. Wäsche-Schrank. Entwurf von hans schlicht—dresden.

mannigfachem Leistenwerk, aber nur wenige entsprechen dem
Zweck des Stuhles besser als der Allerweltsstuhl. Welches
ist denn nun der Zweck eines Stuhles, warum setzen wir uns
auf einen Stuhl? Doch wohl um den Körper zu unterstützen,
um seine Nerven und Muskeln von der Thätigkeit der Auf-
rechterhaltung des Körpers zu entlasten und sie und den
Geist für anderweite Arbeit frei zu machen. Entspricht ein
Stuhl nicht diesem Zweck, so erheben ihn auch alle Schnörkel,
Linien, Leisten, Blumen, Maserungen, Beizungen und was der
Hülfsmittel des modernen Künstlers noch mehr sind, nicht
über den ehrwürdigen Allerweltsstuhl. Wie wenige Künstler
sind aber bisher von dem Zweck des Stuhles ausgegangen!
Die meisten legen einfach kritiklos die bisherige, allgemein
übliche Gestalt des Stuhles ihrer Konstruktion zu Grunde
und beschränken sich darauf, schmückendes Beiwerk anzu-
bringen. So entstehen durch die Sucht, im Konkurrenzkampf
Neues, noch nie Dagewesenes zu bringen, die abenteuerlichen,
dem Zweck des Stuhles geradezu hohnsprechenden Formen,
die man bisweilen anstaunen kann. Der Künstler soll nicht
 
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