Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 15.1904

DOI Artikel:
Kruse, John: Über einige Künstlerlexika
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5900#0279

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
541

Über einige Künstlerlexika

542

getan: »Ich gebe der Zeichnung Daumiers den Vorzug vor
der Gavarnis, aber den Zeichnungen Oarvarnis vor den
Daumiers«.

Derselbe unbeirrle Blick für das wertvolle in ganz
verschiedenen Kunsterscheinungen leuchtet hervor in dem
Artikel über Viollet-Leduc, dem berühmten Architekten,
dessen großes Werk über die Architektur des französischen
Mittelalters (1854—69) eine so durchgreifende Bedeutung
hatte, um Frankreich die volle Würdigung seiner alten
Kunst und den Geschmack daran wiederzugeben. Beraldi
bemerkt das Eigentümliche darin, daß die Arbeit eines
halben Jahrhunderts notwendig war, um endgültig die
große französische Kunst des 13. Jahrhunderts zu rehabili-
tieren. »Aber», fügt er hinzu, »sich über dieses Verhältnis zu
beklagen, nützt gar nichts, das Publikum zu beleidigen auch
nicht. Man zankt nicht mit einem unwissenden Kinde,
man lehrt es lesen. In derselben Weise: sich über den
.Spießbürger' auszulassen, hilft der Sache nicht. Es ist
besser, ihn in die Kunst einzuführen. Ja noch eine Sache:
Seht nun einen Mann wie Viollet-Leduc selbst; sobald er
von der Zeit zwischen dem 11. und 16. Jahrhundert weg-
kommt, wird er ein unversöhnlicher Sektierer, ein Bild-
stürmer. Sobald die Renaissance kommt, ist er außer sich.
Stellt euch ihn allmächtig vor, und er würde Versailles,
den Triumphbogen und das Operngebäude rasieren lassen,
um sie mit .rationellen' Donjons in Simili-Gotik von seiner
eigenen Facon zu ersetzen. Die Toleranz ist ein seltenes
Ding in dieser Welt!«

Eine Vorstellung von Beraldis Vermögen, in wenigen
Worten eine treffende Charakteristik von der Eigenart
eines Künstlers zu geben, kann man von seiner Äußerung
über Whistlers radierte Ansichten von der Thames erhalten:

»Eine außerordentlich feine Nadel — infolgedessen er
sich hütet, das Format zu übertreiben — empfindlich aber
ohne Mutwille, fest und nervig ohne Brutalität, nicht mehr
sagend als das streng Notwendige ohne dicke Schwärze,
das Weiß des Papiers, wie es sich ziemt, mitsprechen
lassend — kurz gesagt immer elegant (Whistler war in
seinem Wesen ein distingue).«

Und Zorn, den Beraldi »einen kräftigen und sehr ori-
ginellen Radierer« nennt, würde sich, wie ich glaube, nicht
über folgende kurze aber treffende Beschreibung seiner
Radierungen beklagen:

»Ganz nahe gesehen sind seine Blätter mit diagonalen,
nicht gekreuzten Strichen niedergesäbelt (»sabres«), die
eine Menge Ränder bilden, welche unbegreiflich erscheinen.
Aber betrachte sie in der Entfernung, und die robuste
Zeichnung taucht hervor durch den Gegensatz der Valeurs!«

Es ist nun aber einmal in der Welt so, daß auch die
besseren Menschenwerke ihre Mängel haben. Beraldi, der
so ausführlich und in aller seiner Scherzhaftigkeit gewissen-
haft die französischen und auch die englischen Künstler
behandelt, macht sich, da er zu den deutschen graphischen
Künstlern kommt, sehr bedenklicher Versäumnisse schuldig.
So nennt er z. B. gar nicht zwei so wirklich hervorragende
Künstler wie Adolph Menzel, dessen großer und wohl-
verdienter Ruf sich nicht nur auf seine Gemälde, sondern
auch auf seine Lithographien gründet, und Moriz von
Schwind, den klassischen, so liebenswürdigen Romantiker,
welcher auch Radierungen ausgeführt hat. Von neueren
deutschen Graphikern werden Unger und Koepping ge-
nannt, wogegen nicht ein solcher Meister wie Max Klinger,
dessen Bedeutung die der beiden genannten weit über-
ragt und welcher auch durch seine bloße Technik als ein
Erneuerer der graphischen Kunst betrachtet werden muß.
Schon ehe das Werk Beraldis zu erscheinen anfing, hatte
Klinger eine ganze Reihe von bedeutenden Arbeiten auf
diesem Gebiete geschaffen. Daß Hans Thoma nicht auf-

genommen wurde, hat dagegen seine natürliche Erklärung

darin, daß dieser hervorragende Künstler sich mit der

Lithographie erst 1892 zu beschäftigen begann, demselben

Jahre, in dem der letzte Band von Beraldis Lexikon erschien.

* *
*

Das englische Lexikon, von dem ich jetzt berichten
will, ist typisch englisch durch seine äußere und innere
Erscheinung von einer distinguierten und vertrauen-
weckenden Solidität und seine in gewissen Fällen hervor-
tretende nationale Exklusivität. Es ist die im vorigen Jahr
begonnene, revidierte und erweiterte neue Auflage von
Bryans Dictionary of painters and engravers.

Dieses englische Künstlerlexikon genießt offenbar eine
große Popularität unter den englischsprechenden Völker-
millionen. Die erste Auflage — in zwei Quartvolumina

— erschien 1816, eine zweite, revidiert von /. Stanley,
1849. Dann folgte ein Supplement — ein Oktavvolumen

— 1876 von H. Otüe.y. Die dritte Auflage, die in zwei
Oktavvolumina 1884—89 von R. E. Graves und Sir Walter
Armstrong redigiert wurde, war zum großen Teil, besonders
durch die Zufügung von graphischen Künstlern, ein neues
Werk mit ungefähr dem doppelten Umfang. Diese dritte
Auflage muß einen reißenden Absatz gehabt haben, weil
sie 1894, 1899 und 1901—1902 neu gedruckt wurde.

Die jetzt erscheinende vierte Auflage von George C.
Williamson, bekannt durch ein paar neuere Arbeiten über
Porträtminiaturen, redigiert, wird in ihrer Ordnung wieder
ein zum großen Teil neues Werk, das in seiner Weise
ein sprechendes Zeugnis von der in unseren Tagen stark
gesteigerten Intensität der kunsthistorischen Forschung ab-
gibt. Von den zwei Volumen der vorigen Auflage ist das
Lexikon zu fünf angewachsen, von denen die zwei ersten
(A—G) bis jetzt (1903) erschienen sind. Der erste Teil
(A—C) ist nach der Statistik des Herausgebers um 72
neue Biographien vermehrt worden, wozu ca. 600 Berich-
tigungen kommen. Der zweite Teil hat 130 neue, 17 ge-
änderte oder vermehrte Biographien und um 500 Separat-
korrekturen aufzuweisen. Außerdem ist die Neuigkeit ein-
geführt, daß die Lebensbeschreibungen der hervorragenderen
Künstler von gut ausgeführten Photogravuren oder Auto-
typien nach allgemein bekannten oder mehr verborgenen
Meisterwerken, sowohl Malereien als graphischen Blättern,
begleitet werden. Diese Idee, die Beraldi meines Wissens
erst erfand und in einer noch feineren Form ausführte
(die Illustrationen in seinem Graveurlexikon sind in lauter
Originalarbeiten für dieses Werk ausgeführt), ist sehr
glücklich, nicht bloß, weil der notwendigerweise ein Biß-
schen abschreckende Aspekt eines Lexikons dadurch fröh-
licher, für den Liebhaber verlockender wird, sondern auch
(was nicht eben so leicht erkannt zu werden pflegt) für
den Fachmann, dessen Bildergedächtnis beim Lesen einer
Biographie auch erfrischt werden kann und dessen Augen
auch erfreut werden dürfen.

Der Solidität der äußeren Ausstattung entspricht so
ziemlich das Innere. Es ist im ganzen genommen eine
vortreffliche Arbeit, zuverläßlich und gewissenhaft in seinen
Angaben und einsichtsvoll in seiner Ökonomie. Es be-
handelt die hervorragenden Künstler, sowohl die älteren
als die modernen, ausführlich in signierten Artikeln, die
mit Aufzählung der Hauptwerke und mit Literaturhin-
weisungen schließen, die übrigen dagegen lakonisch ab-
fertigend.

Mitarbeiter in dem neuen Lexikon sind mit Aus-
nahme vom Italiener Corrado Ricci, bekannt durch eine
große Monographie über Correggio und hier Verfasser
des Artikels über diesen Meister, ausschließlich Engländer
und Engländerinnen. James Weale schreibt über die alten
 
Annotationen