Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 15.1904

DOI Artikel:
Schumann, Paul: Neues von Max Klinger
DOI Artikel:
Schleinitz, Otto von: Londoner Brief, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5900#0202

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
387

Londoner Brief

388

hebt uns die glaubensfreudige Zuversicht, die furcht-
lose Entschlossenheit, das pflichttreue Ausharren in-
mitten der Schrecken des Todes, verkörpert in jener
hoheitsvoll ernsten, edeln weiblichen Gestalt, die uns
anmutet wie die gestaltgewordene Überwindung des
Todesgrauens durch den Glauben! Mit voller künst-
lerischer Kraft ist Wirklichkeit und Phantastik über-
zeugend vereint, das Sichtbare wie das Unsichtbare
gleichmäßig ergreifend und zwingend gestaltet!

Ganz anders das zweite Blatt, Künstler: in drei
lebensvollen Gestalten zeichnet Max Klinger hier den
Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das enge
Leben, die an tausend Ketten hängende Wirklichkeit,
Elend und Not möchte der Künstler weit hinter sich
lassen: eins mit der Phantasie, schreitet er, weitab
von dem Getriebe des Alltags, auf lichten Höhen.
Eine prachtvolle Baumgruppe erhebt sich auf der
schmalen Höhe, die den ins Meer hinausstrebenden
Bergzug krönt. Dem Chor eines Domes gleich treten
die hochaufragenden, prachtvollen Bäume zusammen,
und ihre Kronen vermählen sich zum herrlichen Ge-
wölbe. Links und rechts davon schweift der Blick
hinaus über Wälder und Wiesenhänge auf die weite
Fläche des Meeres. Die Luft der Freiheit weht hier
oben, und das edle Paar schreitet auf blumigem Boden
einher: der Künstler in schwarzer, eng anliegender
Kleidung und an seine Schulter gelehnt eine pracht-
volle weibliche Gestalt in lichter freier Gewandung:
die Phantasie. Indes — wer vermag dem Elend auch
nur auf Augenblicke zu entrinnen! Mit vorgestreckten
Händen und stierem Blicke schleicht eine mit Ketten
beladene Gestalt der Gruppe nach, ein Bild trost-
losesten Elends. Unwillig wendet sich der Mann
halb rückwärts nach ihr um. Der Gegensatz zwischen
Phantasie und Leben, zwischen Freiheit und irdischer
Gebundenheit ist prachtvoll gestaltet, und auch als
Ganzes wirkt das Blatt in seiner großzügigen Auf-
fassung, in seiner wundervollen landschaftlichen Schön-
heit, in seiner harmonischen Ausgeglichenheit von
Schauplatz und Vorgang, wie in den wohlberechneten
dekorativen Gegensätzen von Hell und Dunkel un-
gemein groß und bedeutend.

Der Gedanke des Todes äußert sich hier als
Kampf der irdischen Gebundenheit gegen das auf-
strebende Ideal, das an jener zugrunde gehen muß.
Die Allegorie ist klar und lebendig gestaltet. Gegen-
über der früheren Auffassung dieses Bildes — die
Jammergestalt der Wirklichkeit lehnte hinten hilflos
am Baum — hat die Komposition an Leben und
innerer Wahrheit entschieden gewonnen.

Das dritte neue Blatt endlich ist Integer vitae be-
titelt. Es erschien schon früher in einigen Abzügen
von einer älteren Platte, die Klinger dann verworfen
hat. Die Komposition ist dieselbe geblieben, die
Technik aber ist sehr viel ausgeglichener und feiner
geworden.

Integer vitae scelerisque purus, das ist: Wer reines
Herzens und frei von Feh! ist. So beginnt bekannt-
lich eine Ode des Horaz, die in ernstem Tone an-
hebt und mit neckischen Worten ausklingt. Max
Klinger hat nur den Ernst der ersten Worte im Auge.

Ein nackter Jüngling schreitet mit weit vorgestreckten
Händen dem Abgrund, den Gefahren entgegen —
ruhig, ahnungslos, frei von Furcht. In ihm ist die
reine Gesinnung, der schuldlose Mensch, der reines
Herzens und durch Welt und Leben dahingeht, mit
anschaulicher Kraft vor uns hingestellt. Droben aber
über ihm thront auf Wolken sitzend der Tod, das
Schicksal, das Jenseits von Gut und Böse, die Zeit
oder wie wir diese eisig ruhige, eherne, unnahbare
Gestalt nennen wollen, die uns erscheint wie das
ewig Unwandelbare, das erhaben über dem ewigen
Wechsel, der schwächlichen Kleinlichkeit des Irdischen
thront. Alles Irdische ist vergänglich: unter den
Füßen des Unwandelbaren liegt in Trümmern, was
einst groß und gewaltig war: das Kolosseum, Paläste
und Tempel der Griechen und Römer, die nur in
bewunderungswürdigen Trümmern auf uns gekommen
sind. Der Ewige hält in seiner Linken ein Stunden-
glas; mit seiner gewaltigen Rechten deckt er die Öff-
nung des Vulkans, worin die Urkräfte jähen Ver-
derbens für die ganze Welt verschlossen sind. Unter
dem Stundenglas aber, am Abhänge klebend, stehen
drei Gestalten, die mit erhobenen Armen der Welt
ihre große Botschaft verkünden: Moses mit dem glän-
zenden Angesicht (2. Mos., 34, 29: »die Haut seines
Angesichts glänzte«), Christus mit der Dornenkrone
und Brahma mit dem indischen Diadem. Mit ge-
brochenen Augen, das erhabene Haupt im Tode zur
Seite geneigt, liegt Zeus zwischen diesen lebensvollen
Gestalten und das Heidentum stürzt entseelt den Ab-
hang hinunter.

Dreimal hat Max Klinger die Zeit dargestellt, zwei-
mal als Vernichter, hier als fühllos unnahbaren Be-
herrscher der Welt, vor dem alle irdische Größe in
nichts zerfällt, gleich dem Sandkorn, das den Abhang
hinuntergleitet — ein nichts. Die größte erhabenste
Fassung des Problems liegt im Integer vitae vor. Diese
ganz neue Darstellung des Todes, die kein Zeitalter,
kein Künstler vorher erschaute, ist Klingers ureigenste
Schöpfung. Dieses gewaltige Blatt wird die ganze
Reihe der Blätter vom Tode eröffnen. Nur noch
drei Blätter stehen aus: Krieg, Herrscher, Philosoph.
Möge der Künstler sie uns bald schenken und da-
mit das große Werk vollenden, in dem er unserer
Zeiten Anschauung vom Tode so gewaltig verkörperte.

PAUL SCHUMANN.

LONDONER BRIEF

Rodins Wahl zum Präsidenten der internationalen
Künstlervereinigung Englands, nach dem Hinschei-
den Whistlers, muß in jeder Hinsicht als eine
sehr glückliche bezeichnet werden. Die Ausstellung
in der »New-Gallery« läßt klar erkennen, daß dem
Organismus der Gesellschaft neues Leben zugeführt
wurde. Des Präsidenten Werke, der übrigens der Er-
öffnung der Gesellschaft persönlich beiwohnte, würden
schon allein genügt haben, dem Unternehmen eine
reizvolle Anregung zu verleihen. Die Unterstützung
anderer Künstler bot aber gleichfalls so viel Interes-
santes, daß die weitgehendsten Erwartungen über-
 
Annotationen