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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 8 (2. Januarheft 1909)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0101
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für, daß ich niemand, wie sie doch sonsten zu thun pflegetcn, auf dein
Kirchhof stehen sahe: meinete aber, sie wären in die Häuser getreten.
Aber als ich endlich mit meim Löchterlcin in die Kirche kam, waren
nur bei sechs Menschen versammlet, unter welchen die alte Lise Kolken
und sahe die vermaledehete Hexe nit allsobald mein Töchterlein mir
folgen, als sie ein Kreuze schlug nnd wieder zur Thurmthüren hinans
rannte, worauf die übrigen fünf, benebst meinem einigen Fürsteher Claus
Bulken (denn für den alten Scden hatte ich annoch keinen wieder an-
genommen) ihr folgeten. Ich entsatzte mich, daß mir das Blut geranne,
und ich also zu zittcrn begunnte, daß ich mit der Achsel an den Beicht-
stuhl fiel. Fragete meiu Löchterlein also, welcher ich noch nichtcs gcsaget
hatte, umb sie zu verschonen: „Vater was fehlet den Leuten, sind sie
vielleicht auch besessen?" worauf ich wieder bei mir kam und auf dcn
Kirchhof ging, umb nachzusehen. Aber sie waren alle wegk, bis auf
meinen Fürsteher Llaus Bulken, welcher an der Linden stand, und für
sich ein Liedlein pfiff. Trat also hinzu und fragete, was den Leuten
angckommen, worauf er zur Antwort gabe: das wisse cr nicht. And
als ich abermals fragete, warumb er sclbsten denn auch gelaufen wär,
sagte er: was er hätte allcin in der Kircheu thun sollen, dieweil dcr
Bedclt* doch nit hätte gehen können. Beschwure ihn also mir die Wahr-
heit zu sagen: welch gräulicher Verdacht gegen mich in die Gemein ge°
kommen? aber er antwortete: ich würd es bald schon selbsten erfahren,
und sprang über die Mauer, und ging in der alten Lise ihr Haus, so
dicht am Kirchhofe steht.

Mein Töchterlein hatte eine Kälbersuppen zum Mittag, vor die ich
sonst allens stehen lasse, aber ich kunnte keinen Löffel voll in den Hals
bringen, sondern saß und hatte mein Haupt gestützet und sanne, ob ich
es ihr sagen wöllte oder nicht. Hierzwischen kam die alte Magd herein,
ganz reisig und mit einem Tuch voll Zeug in der Hand und bat weinende,
daß ich ihr den Abschied geben wölle. Mein arm Kind wurde blaß, wic
ein Leich und fragete verwundert, was ihr angekommen? Aber sie ant-
wortete blos: „nicks!"** und wischete sich mit der Schürzen die Augen.
Als ich die Sprache wieder gewunnen, so mir schier vergangcn war, die-
weil ich sahe, daß dies alte, trcue Mensch mir auch abtrünnig worden,
hub ich an, sie zu examiniren: warumb sie fort wölle, da sie doch so
lange bei mir vcrharret, auch in der großen Hungersnoth uns nicht ver-
lassen wöllen, besondern getreulich ausgehalten, ja mich selbsten mit ihrem
Glauben gedemüthiget und ritterlich auszuhalten vermahnet, was ich ihr
nie vergessen würd, so lange ich lebte. Hierauf finge sie an nur noch
heftiger zu weinen und zu schluchzen und brachte endlich herfür: daß sie
annoch eine alte Mutter bei 80 Iahren in der Liepen wohnendc hättc,
und wölle sie hin, selbige bis an ihr Ende zu pflegen. Worauf mein
Töchterlein aufsprunge und weincnd zur Antwort gab: „ach, alte Ilse,
derumb willtu nicht wegk, denn dein Mütterlein ist ja bei deinem Bruder;
sage mir doch, warumb du mich verlassen wilt, und was ich gegen dich
verwirket, damit ich es wieder gut machen kann?" Aber sie verbarg ihr
Gesicht in der Schürzen und schluchzete nur, ohne ein Wörtlein herfür--
zubringen, wannenhero mein Töchterlein ihr die Schürzen wegkziehen

* Klingbeutel ** nichts


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