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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 11 (1. Märzheft 1909)
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Erdmann, Karl Otto: Wahrheitswert und Phantasiewert, [2]: [mit einem Kommentar von Ferdinand Avenarius]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0297
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Wahrheitswert und Phantasiewert

(Schluß)

einem Aufsatz «Die Großen und wir« (Kw. XXI, 23) hat Ave-
^t narius Fragen aufgeworfen, die mit den vorliegenden Gedanken-
^Ikreisen sich berühren. Er legt dar, daß wir uns im wesent»
lichen auf zwei Arten mit den Großen auseinandersetzen könnten,
mit den „Betätigungen der Großen an sich« und ihren „Per--
sönlichkeiten". „Nehmen wir im Beispiel an, es handle sich
bei den Betätigungen nur um Gedanken, die begriffliche Lrkenntnisse
bedeuten oder die doch in dem Glauben, sie bedeuteten solche, aus--
gesprochen werden. Betätigung der Persönlichkeit ist ja alles, was
von ihr ausgeht, aber der hinausgesprochene Gedanke hat einen Wahr--
heitswert oder Unwahrheitsunwert an und für sich, der für seinen
begrifflichen Gehalt Daseinsrecht oder --nichtrecht bedeutet — aber
nur sür diesen. Darüber sich klar zu werden, heißt dte sachlichen
Bedingungen des Gedankens so gut nachzudenken, wie man's eben
vermag. Eine logische und abstrahierende Arbeit, die unentbehrlich,
die notwendig ist, wenn wir weiter wollen. Aber doch erst die eine
und nicht die einzige Art, die hier Werte vermittelt. Denn eine große
Persönlichkeit gibt uns so gut wie niemals nur etwas Falsches,
es ist immer noch etwas von ihr selber dabei, und das behält seinen
Wert. Oder jedes Schullehrbuch über Psychologie und Physik ist
mehr wert als Plato und Aristoteles, denn es ist weniger »ver--
altet«.« „Beim Nachprüfen der einzelnen Aussprüche auf ihren
sachlichen Wahrheitsgehalt hin mögen wir im gewöhnlichen Wort-
sinne lernen. Beim Eindringen in die Persönlichketten gilt es mehr.
Wir kommen ja dem anderen Ich nicht nur mit dem Verstande näher,
sondern wie unsere Phantasie mitarbeitet, wird es für uns zu einer
Anschauung, die auch mit ihm zu fühlen befähigt. Wir gewinnen
ein Ahnen von seinem Hören und Sehen, und ein Schatten wenigstens
von seinem Bilde der Welt steigt auch in uns selber auf."

Diese Forderung, zwischen den disparaten Werten, die sich auf
dieselbe Sache oder Persönlichkeit beziehen, strenger als üblich zu
unterscheiden, ist sehr angebracht. Das in einer Hinsicht ganz Wert-
lose und Unbedeutende hat vielleicht in andrer tzinsicht einen hohen
Wert. Das gilt in so beträchtlichem Maße, daß ja selbst die blöden
Natschläge eines Irrsinnigen an den Reichstag, die dieser ungelesen
beiseitewirft, für einen Psychiater oder Psychologen von funda--
mentaler Wichtigkeit sein können. Nur darf man nicht vergessen,
daß dort die Scheidung der Werte unmöglich ist, wo sie miteinander
verhäkelt sind und voneinander abhängen. Sagt einer: ich schätze
Wagner ungemein, aber ich halte seine theoretischen Forderungen für
verfehlt, so ist natürlich das Auseinanderhalten dieser auf ganz ver--
schiedene Gebiete sich beziehenden Werte leicht möglich. Kaum mehr
angängig ist's aber schon, Wagners Person für hochbedeutend, aber
seine Musik für stümperhaft zu erklären; und vollends sinnlos wird
die Behauptung, Wagner gehöre wohl zu den „ganz Großen", aber
seine musikalischen sowohl, wie seine denkerischen Leistungen seien
nichts wert. Was ist denn schließlich das Kennzeichen dasür, daß

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