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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 12 (2. Märzheft 1909)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0405
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was denen auch wirklich geschadet hat wie die Pest: — — — alle die
„Enterbten" . . . der Vater tot ... die Mutter arbeitet meist außer
dem Hause . . . sie vegetieren ganz weit draußen in der Lhausseestraße;
aber meist vagabundieren sie auf den Gassen umher . . . schwache er°
bärmliche Körper mit mageren, kranken Gesichtern und eingefallenen,
fiebrigen Augen über den spitzen, scharf vortretenden Backenknochen, . . .
und von den blutarmen, dünnen Lippen drängen sich solche ausgereifte
Gemeinheiten, wie man sie in den statistischen Bureaus so gut als
Keim für die Tabellen mit den wahnsinnig vielen Zahlen eintragen
könnte — — — alles das verwahrloste „Gesindel" nehmen sie in ihre
offencn Arme auf, — denn es sind auch noch Menschen, in denen so
etwas wie eine Seele schlummern muß, — und mit unsäglicher Mühe,
mit riesengroßer Geduld und Liebe versuchen sie allmählich die Schlacke
von dem Edelmetall herunterzuschmelzen.

Ganze Probleme bauen sich auf, die überwältigt werden müssen . . .
so ricsengroß, weil — wie oft? — ein positiver Erfolg nicht einmal
annähernd sicher bestimmt werden kann. Aber sie dringen durch mit der
Zeit,-und was sie dann getan haben einem unter diesen Geringsten ...

Nur einige Namen: Francke, Pestalozzi, Wichern . . . aber Namen
brauchen wir hier nicht; jeder von denen hat sich sclbst ein Denkmal
gesetzt, ein schöneres, als das ihnen die anderen in Bronze gossen.

Aber der Zug darf nicht endigen, gerade in unserer Zeit nicht, der
Zug gegen das Elend auf dsr Gasse, gegen die Gefahr für die Unver-
dorbenen, die von ganz weit draußen von der Ehausseestraße herüberdroht.
Creisfeld Sansoni

Nundschau

„VerachteL nur ..."

H*lle haben's gelesen: Als Adolf
^U-Wagner bei den „Wirtschafts-
und Steuerreformern" für die Nach-
laßsteuer eintrat, wurde er ausge-
lacht, verspottet und verhöhnt. Man
wußtc so wenig von seiner Arbeit,
daß man ihn, den frühesten deut-
schcn Bekämpfer der Vodenspeku»
lation, als einen vermeintliche'n Be-
schützer des Vodenwuchers apostro-
phierte — aber daß man so wenig
von ihm wußte, behinderte ja nicht,
sondcrn beförderte den Glauben,
man könne über ihn urteilen. Im
Verlauf betonte er, daß er nicht als
Mann der Praktik, sondern dcr
Lheorie, daß er als Mann der
Wissenschaft spreche. „Mann der
Wissenschast" und Theoretiker und
wollte hier mitreden — das schien

vielen der Herren doch gar zu
komisch.

Unser Blatt, das nicht zu politi-
schen Erörterungen da ist, hat den
Gegenstanü des Streites nicht zu
erörtern. Aber das eigentümliche
Verhalten dieser sogcnannten Ge°
bildeten zu Theorie und Wissen-
schaft verlangt auch hier ein paar
Worte.

Dem Halbgebildeten — und crnst-
haft sprechend darf man hier na°
türlich nur von solchen rcden —
ist es nicht bewußt, daß der Mensch
ununterbrochen mit Annahmcn ar°
beitet, und wenn er nur sagt: «die
Kornpreise steigen, daran ist die
Börse schuld", „die Schwalben fliegcn
tief, cs wird Negen geben", „die
Suppe ist vcrbrannt, die Köchin
hat ihren Schatz im Kopfe gehabt"

Allgemeineres

2. Märzhefl l9»9

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