Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

DOI Heft:
Heft 10 (2.Februarheft 1909)
DOI Artikel:
Erdmann, Karl Otto: Wahrheitswert und Phantasiewert, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0220
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Iahrg.22 Zweites Februarheft 1909 Heft lO

Wahrheitswert und Phantasiewert

„Wissenstrieb", der Drang, über gewisse Dinge und Gescheh-
>-H^nisse die volle, die ganze Wahrheit zn erfahren, gilt herkömm-
licherweise und in der Theorie als etwas sehr Selbstverständ--
liches. Auch der moderne Mensch, der von Gelehrsamkeit nicht
viel wissen will, unternimmt einmal einen Ausflug in das Gebiet
der Wissenschaft, zumal wenn ihm die letzten Lrgebnisse mundgerecht
und leicht verständlich dargeboten werden und er nicht nötig hat,
selbst zn prüfen und zu kontrollieren nnd den mühsamen Weg, den
die Forschung genommen, anch seinerseits zu durchwandern. Gr will
wohl gelegentlich einmal etwas über den Planeten Mars, womöglich
seine Bewohner, hören, aber er hat nicht die geringste Neigung,
durch Rechenwerk oder astrophysikalische Uutersuchungen belästigt zu
werden. Dieser vulgäre Wissenstrieb enthüllt sich bei näherer Prüfung
wohl immer in letzter Linie als ein Streben nach „ä st he ti s che r"
Lust, dieses Wort in seiner weitesten Bedeutung genommen. Die
geistig Interessierten, soweit sie nicht Fachleute sind, wollen auch
von der Wissenschaft nur eine Gefühlserregung; sie wollcn
jene Spannungsgefühle durchkosten, die sich bei der Entschleierung
dunkler Erkenntnisgebiete einstellen; sie wollen jene erhabenen Ge-
fühle erleben, die mit der Beautwortung letzter kosmologischer Fragen
verbunden sind; sie wollen auch durch die Ergebnisse historischer
Forschung wie durch gewaltige Dramen erschüttert werden. Da nun
alle diese Gefühle oft ebenso gut, ja besser durch falsche Beantwor-
tung der Fragen erzeugt werden als durch richtige, so ist's begreiflich,
daß sich die Werte verschieben und vermengen, daß Lsthetische Maßstäbe
an Stelle von Wahrheitskriterien treten und daß sich der Drang
nach Wahrheit und die Lust am Trug miteinander verschmelzen;
worauf einmal hinzuweisen gerade hier im Kunstwart die richtige
Stelle ist.

Nehmen wir an, es gewönne einer Interesse an dem Charakter
und den Schicksalen eines assyrischen Königs. Begreiflich genug!
Die Gestalt regt die Phantasie an, sie ist sagenumwoben und aus
frühester Kindheit vertraut. Neugefundene Dokumente werfen ein
ganz neues Licht auf die mächtige Gestalt des alten tzelden und
widersprechen vielsach den alten, früher als verbürgt geltenden Aber-
lieferungen. Wie steht es also „in Wirklichkeit" mit der frag-
lichen Persönlichkeit und ihren Taten, was kann als „Wahrheit"
über sie gelten? Zur Beantwortung dieser Fragen bieten sich dem
Wissensdurstigen eine Menge literarische tzilfsmittel dar. Da ist
znnächst das Werk des tzistorikers A — ein dicker Band, bas impo-
nierende Produkt deutscher Gründlichkeit und deutschen Gelehrten-
fleißes. Ein solches Buch muß wohl erschöpfende Auskunft geben.
Aber die unter großen Erwartungen begonnene Lektüre endet bald
in tiefer Verstimmung. Entsetzliche Nüchternheit, Nmständlichkeit,

2. Februarheft chOY
 
Annotationen