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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 10 (2.Februarheft 1909)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0245
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Allgemeineres

zusammengedrängt waren und sich umeinander geschlungcn hatten, wie
bei einer Darmverschlingung, fast ohne Erde, da vcrstand er, was sie ge°
litten hatte und wie die andere totgepeinigt worden. Nun konnte sie sich
ausstrecken; und die schwarze samtweiche Erde schloß sich um die ent-
blößten Eingeweide, wundenheilend, nährend.

Wie der Vogel Phönix stieg die Palme aus ihrer Asche, begann zu
wachsen, tricb die Blätter aus dem Herzen, streckte die großen grünen
Schwingfedern zum Flug aus. Die Eisenrute grünte wieder, hell mit
weichen Blättchen. Man sah ihr an, wie sie ihr Dasein genoß. Und
wer gcnicßen kann, kann wohl auch leiden, darum soll man Pflanzen nicht
guälen.

Der Besitzer aber sah im Kalender nach, fand, daß der Tag den schöncn
Namen eines lieben Menschen trug. Und er sagte sich: ich habe einen
Gefangenen an deinem Tag freigemacht, dir zum Wohlergehen, dir zur
Befreiung, Gcliebtc! Und mir!

Da war aber eine andere Palme, eine kleine Fächerpalme von der
Fnsel Bourbon. Sie bckam ihren Platz in einem sonnenhellen Zimmer
auf dem Kleidcrschrank am Fuß des Bettes. Nnd sie streckte ihre HLnde
abends und morgens segnend aus.

Als das Haus mit einem kleinen Kind gesegnst wurde, trieb die Palme
ein neues frisches Blatt. Es kam zur Wclt wie ein zusammengelegtcr
Fächer, hatte sich aber bald wie cine Hand ansgebreitct, streckte sich über
die Wiege, schützend, Friede winkend.

Das streitsüchtige Leben aber gibt kcinen Frieden. Das kleine Kind
schien in Unfricden nicht zu gedeihen, sondern drohte wieder seiner Wcgc
zu gehen.

Die Palme, die das kleinc Kind liebte, gedieh nicht mehr im Sonnen-
zimmer, sondern erhob sich so aus der Erde, daß man die Wurzeln sah;
sie kroch aus dem Topf heraus, als wolle sie ihrer Wege gehen, fortfliegen.
Es half nicht, daß man ihr Erde um die Füße schob; sie wollte bestimmt
aus der Erde empor, weg, weit weg.

Nnd als das kleine Kind wieder sciner Wege ging, trauerte die Palme,
das ganze Trauerjahr über, wurde häßlich und alterte, kam in die Küche
und starb, ohne daß wer nach ihrcn letzten Schicksalen fragte.

Rundschau

Darwin

s882 im Frühsommer war's, da
landete ich vor Tunis auf Si-
zilien. Quer über allen Fenstern
und Türen schwarze Streifen mit
der Aufschrift: „Landestrauer". Sie
galten Garibaldis Tod, aber noch
einer war gestorben: Darwin. Und
so oft ich meine Gefühle von der
Dummheit zurückrief, sie behaup-
teten immer wieder: die italieni-
sche Landestrauer gelte dem eng-

lischcn Naturforscher. Darwin!
Mußte dcnn nicht die ganze Welt
um ihn trauern?

Ich erzähle die kleine Iugend-
erinnerung als ein Symptom da-
für, was Darwin uns frisch Her-
angewachsenen damals war. Der
große Befreier im Gedankenreich.
Ia, aber noch mehr: beinahe etwas
wie ein Heiland, der neben der
reinen Erkenntnis Erlösung vom
sozialen und sittlichen Wch ver-

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Kunstwart XXII, lO
 
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