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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 9 (1. Februarheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Vom Subalternen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0153
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^Iahrg. 22 Erstes Februarheft 1909 HeftS^

Vom Subalternen

ls jetzt in Berlin die Kriminalisten tagten, ward darüber ge°

sprochen, daß die Zahl der jährlichen Polizeistrafen in Deutsch-
^*^land kaum noch abzuschätzen sei. In Stuttgart hab es letzten
Iahrs rund ^OOOO, in Köln 53 000 solcher Verdammungen nied--
rigsten Grades „gesetzt", aber Stuttgart und Köln sind ja noch lange
nicht am eifrigsten tätig in dieser Branche. Fürs ganze Reich schätzte
man den „Iahresertrag" an Polizeistrafen auf zehn Millionen Stück.
Zehn Millionen Polizeistrafen in einem Iahr! Nnd wofür? Der
Oberlandesgerichtsrat Rosenberg stellte die „Abertretungen" ein biß--
chen zusammen. Wegen Bettelns, auch wegen Bettelns aus Not,
wenn der besondre Notfall nicht unmittelbar nachzuweisen sei. Wegen
der kleinsten „Verstöße" gegen die Straßenpolizei-Ordnung. Wegen
verzögerter An- oder Abmeldung eines Dienstmädchens. Straf-
maudate werden erlassen gegen Fremde, die von den hochwohlweis-
lichen Vorschriften, die jeden Ortes andre sein können, keine Ahnung
haben. Kommt ein Radfahrer an einem Tag durch zehn Orte,
riskiert er unter Amständen zehnmal Strafe. Beispielsweis: wenn
er einen Weg befährt, den man nur zu dieser Zeit nicht befahren
darf, denn Unkenntnis polizeilicher Vorschriften schützt bekanntlich
nicht. Der Droschkenkutscher kann belangt werden, wenn er zwar
seine Legitimation bei sich hat, aber nicht die seines Rosses. Oder
wenn er mal einschläft oder wenn er mal weggeht — auch wenn er's
muß. Dann das Rasenbetreten. Dann die Bauverordnungen. Dann
die Hausierverordnungen. Dann die Ladenverordnungen. Und die
Wirtshausverordnungen. Nnd die Beleuchtungsvorschriften. Usw.
Usw. Zehn Millionen Polizeistrafen, das bedeutet: durchschnittlich
bekommt der Deutsche jedes dritte Iahr eine. Wenn man nämlich
Verreiste, Kranke, Gefangene, Kinder einschließlich der Säuglinge beim
Wettbewerb um diese Auszeichnungen mittun läßt. Sieht man von
ihnen ab, sieht man sogar auch von den Wohlhabenden ab, die
wenigstens ihr Berus nicht „gefährdet", beschränkt man sich auf die
„kleinen Leute«, deren Arbeit sie auf die Straße anweist — wie
stellt sich's dann erst?

In England las ich einmal eine Satire, die schilderte den ersten
Tag eines deutschen Ankömmlings dort. Schon in Dover beginnt
sein Leiden: es gibt keine Bahnhofsperre, man sieht kaum Be°
amte, man wiegt sein Gepäck nicht, man gibt ihm keinen Gepäck-
schein, und als er seine Fahrkarte nimmt, weiß er nicht, wie er
fahren „darf", denn es steht nichts von Eil- oder Personenzug, von
Platzkartengebühr oder Fahrkartcnsteuer darauf. Der Mann wird
unsicher: was darf er denn, wenn ihm nichts verboten ist, was hat
er zu tun, wenn ihm nichts befohlen wird? Er faßt es nicht recht,
daß er ganz unkontrolliert nach London fährt und sein Gepäck
ohne weiteres am Zuge erhält. Glücklich zu seinem Freund ge°
kommen, will er, als strammer Radfahrer, wohl durch die Straßen

i. Februarheft IM9 i2s
 
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