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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 9 (1. Februarheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Vom Subalternen
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0154
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fahren — aber wo darf er? «Wo Platz ist", sagt sein Freund, —
aber das ist doch im Ernst nicht zu denken, daß man rechts oder
links oder mitten durch fahren kann. Peinlich! Er kommt in die
Parke — gottlob, da sind wenigstens eine Menge Geländer, man
weiß, wo man gehn darf. Ach, jetzt sieht er mit Staunen, daß die
Leute ruhig darübersteigen und mitten durchs Grün gehn — un-
faßbar: der Polizist tut nichts. Er erkundigt sich: die Gehege, sagt
der Aniformmann, sind nur sürs Vieh. Aber endlich ein heimischer
Eindrnck: Polizisten geleiten einen Aufzug. Englisch versteht er, er
hört den Reden zu. Gegen Regierung und König, sogar gegen die
Sozialdemokratie spricht ein brünstiger Anarchist. Gegen alle gött--
liche und menschliche Ordnung! rlnd unerhört: die Polizisten sorgen
dafür, daß er nicht gestört wird, denn zu reden ist sein Recht.
Den kontinentalen Hörer faßt Grausen an: mit der nächsten Ge°
legenheit flüchtet er aus dem Lande, „das keine Ordnung kennt".

Das war eine nichts weniger als deutschenfreundliche Satire, mit
einem guten Schuß Gehässigkeit in besonders unfreundlicher Zeit
geschrieben. Ich bekenne: ich habe mich schwer über sie geärgert.
Aber warum glückte mir das Mitlachen so wenig wie das Achsel-
zucken? Weil ihre Äbertreibungen nicht toll genug waren, um als
reine Satire zu wirken, weil sich hier Ansinniges mit der Absicht
nach tatsächlich Zutreffendem mischte. Es ist wirklich verblüfsend
für unsereinen, was jenseits des Kanals alles „geht", das bei uns
nicht „ginge". Wirklich nicht ginge. Weil unser Volk so traurig
gängelbedürftig, so entwöhnt jeder Sichselbsterziehung, so ganz und
gar verzogen ist. Zehn Millionen Polizeistrafmandate jährlich!

Englische Verhältnisse müssen wir immer wieder zum Vergleiche
heranziehen, so närrisch wir wären, wenn wir dortige Einrichtungen
einfach übertragen wollten. Müssen sie heranziehen, weil sie uns
zeigen, wie ein in vielfacher Hinsicht minder, politisch aber mehr
als das unsrige begabtes Volk in merkwürdiger Durchdringung kon-
servativen und fortschrittlichen Wesens eine reinere germanische Zivili-
sation erreicht, als wir. Im übrigen geht uns der Eindruck, den
wir im Ausland machen, ja nicht viel weiter an, als er Ausdruck
unsres eignen Wesens zeigt. Als Spiegel muß er uns wichtig
sein, um uns zu sehn. Was uns der Spiegel zeigt, zn deuten,
bleibt unsre Sache. So werden wir uns über einen einzelnen, maäe
in Lnxlanck, nicht gar so sehr zu erregen brauchen. Wenn aber alle
Spiegel um einen Mann herum behaupten: diesen Buckel da hast
du auf deinem Kopf, so macht ihn das doch wohl an seines Scheitels
Glätte bedenklicher als an der Reinheit der Spiegelgläser. Und so
verschiedenartig die Spiegel um unser Vaterland in allen vier Him-
melsgegenden gemacht sind, es gibt einige Kopfbuckel, vou denen
sie in Nord, Ost, Süd und West bei Engländern, Skandinaviern,
Russen, Italienern und Franzosen alle miteinander behaupten: der
Durchschnittsdeutsche hätte sie.

Streberei, die unfair und nicht gentlemanlike sei, Auftrumpfen
und Renommieren, Lautsein und Sichvordrängen, dann wieder:
Mangel an Nationalstolz, Schimpfen aufs Deutsche, Anterkriechen
beim Fremden und besonders: Kleinlichkeit. Aber wozu alle Vor-

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