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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: "Am Lebensquell"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0379
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jIahrg. 22 Zweites Märzhest ISOS Hest l2

„Am Lebensquell"

^»^as kleine Hänschen schaut in diese riesengroße Zauberwelt neu-
(H^gierig und vergnügt eben erst hinein, und der Plappermund
sragt und sragt. „Mutter, wo kommt die Sonne her?" Dort
hinter dem Berge hat sie geschlasen. „Rnd woher kommt der Schnee?"
Oben im Himmel schütteln die Engel die Betten aus! „Bnd wo
bin ich hergekommen?" Der Storch hat dich gebracht! Nun sieht
das Büblein alles, was da lebt, lacht und leuchtet im Iugendlichte
der Menschheit: im Märchenlicht. Aber die silbernen Morgenschleier
lösen sich allgemach von den Dingen, Form auf Form und Farbe
auf Farbe schimmert erst leise, unsicher und mißverständlich, dann
tlarer und da und dort schon deutlich aus ihnen hervor, und an
die (Lrscheinung gebunden der Gedanke und das Erkennen. „Wo
du herkommst? Der Storch hat dich gebracht!" Der Storch? „Ia,
der Storch!^ Das kann doch nicht sein! „Das ist so!" Nnd
jetzt webt zwischen Eltern und Kind nicht mehr das Märcheu Fäden
aus Duft und Licht — nein: jetzt tritt zwischeu Eltern und Kind
dis Lüge.

Nnd die Lüge wirkt. Ltwas, worüber man nicht reden mag,
steht zwischen denen, die am wenigsten in der Welt Geheimnisse
voreinander haben sollten. Etwas, worüber zu reden beiden pein-
lich wäre. Die eine Unwahrhaftigkeit der Eltern gegen das Kind
zieht andre, zieht hundert und tausend andre nach sich und erzeugt
auch Unwahrhaftigkeiten und Heimlichkeiten beim Kinde seinerseits
gegen die Eltern. Dann greifen die Zufälligkeiten und greifen die
verderbten Kameraden und die schlechtsn Dienstboten ein. „Eure
Elteru lügen euch an, und sie müssen wohl wissen, warum sie's tun:
es ist gemein, aber sie tun es doch. Denn wenn es auch gemein
ist, es bereitet Lust, es zu tun.« Gesegnetes Kind, das seine Rein-
heit bewahren kann, auch wenn nichts als der Zufall sie hütet!
Gesegnetes Kind, das seine Liebe zu den Eltern bewahrt, auch wenu
sie ihm schwiegen, wo sie sprechen sollten! Sie, die nicht wußten,
was sie taten, weil sie nicht wußten, was sie zu tun hatten.

Nnd die Lüge wirkt weit über die Familie hinaus. Mit vielen
andern sind wir davon überzeugt, daß das Verheimlichen, das Ver-
drehen, das Lügen in diesen Dingen eine der Hauptquellen der Ver-
logenheit unsrer ganzen Zivilisation überhaupt ist. Ls ist zugleich
eine der verderblichsten Quellen der Falschwertung wichtigster Güter.
„Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle" — bei Gott, wenn sie
sich nicht im gesunden Trieb reiner Iugendliebe oder alles beherrschen-
der Mannesleidenschaft immer wieder dem Einzelleben derer offen-
barten, die noch gesuud und stark sind, so müßte der Methode unsres
Wahnsinns schon ihre allgemeine Lntwertung im Bewußtsein der
Menschen gelungen sein. Was gedacht ist, damit es rein halte,
führt in der Wirklichkeit des Lebens zum Beschmutzen. Nicht nur

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