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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 7 (1. Januarheft 1910)
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Avenarius, Ferdinand: Tageskritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0015
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Iahrg.

23 Erstes Ianuarheft 1910 Heft7

Tageskritik

^^^.ach langer Fastenzert wieder ein Stück eines Fürsten vom Son-
^H nenlande! Gestern hab ich's im Theater gesehn. Es läßt sich
^ v'dies und das dagegen sagen, nur: ich verspüre keinen Anlaß
dazu. Wieviel Anmut und Liebenswürdigkeit, wieviel Reichtnm und
wieviel Äberlegenheit, wieviel Humor und wieviel Wärme! Die genotz
ich, die lebte ich mit, derer ward ich sroh, und ihr Widerschein webt
und goldet mir heute noch wie holdes Licht ringsherum über Tisch
und Wände. Nun nehme ich die Morgenblätter zur Hand. Die Herren
Kritiker sind gescheite Leute, sie haben eine Menge von Gesichtspunk-
ten. Unter dem sieht das Ding so aus, unter jenem dagsgen so. Aber,
allerdings, indessen, dann jedoch, teils-teils, freilich, hinwiederum,
immerhin. Einwendungen, Vorbehalte, Zugeständnisse, Betrachtungen
und immer wieder Gesichtspunkte. Kenntnisse, daß der Mensch Respekt
davor kriegt, literarische Perspettiven, daß man zugeben muß: nein,
seid ihr fernsichtig! Freilich, allerdings, hinwiederum: werden eigent-
lich zur Dokumentierung dieser Tatsache die Rezensionen in Tages-
blättern geschrieben? Wo sich von zehn Lesern höchstens einer sür
eure Gescheitheit, eure Kenntnisse und eure Gesichtspunkte interessiert?
Während ihr von den zehnen mindestens zwei, höchstens alle zehn
empfänglicher stimmen könntet, sich das Stück Leben aus dem neuen
Werk herauszugewinnen, das ihr Leben bereichern kann?

Als es Suderniann Iahr auf Iahr bei den Kritikern übelgegangen
war, schrieb er bekanntlich eine Zornschrift über die „Verrohung" der
Kritik gegenüber den „Schaffenden". Auf dieses Thema will ich ganz
und gar nicht hinaus. Nnsrer Tageskritik würd es schwerlich schaden,
wenn sie mänchen Herrn llr. Rüpel zusammen mit manchem Herrn
vr. Hinterstich auslüde. „Doch zuzeiten sind erfrischend wie Gewitter
goldne Rücksichtslosigkeiten" — meines Erachtens sogar, wenn sie sich
gegen einen Sudermann wenden, wovon später noch zwei Worte zu
sagen sind. Das Hauptgebrechen hat aber unsre Tageskritik, glaube
ich, an einem ganz andern Gliede. Ich glaube: sie ist sich in der
großen Mehrzahl ihrer Vertreter über ihre kunsterzieherischen
Aufgaben noch nicht klar geworden.

Ein Merkmal des Zeitgeistes, den zu überwinden wir streben und,
wenn die guten Zeichen nicht trügen, zu überwinden auch im Begriffe
sind, eins seiner Merkmale war: daß man statt des Genusses am
Künstlerischen das pflegte, was einem als Verständnis der Krrnst
erschien. Nun ist das reflektierende Betrachten der Kunst in allen
ihren Betätigungen ja gewiß eine Sache, die nur geringschäßt, wcr
kein Denklustiger ist. Kunst ist auch Gegenstand einer Wissenschaft,
und niemandem von nns fällt es ein, diese Wissenschaft niedrig zu
werten. Aber die Pflanzen blüherr und die Tiere atmen nicht, um
Gegenstand der Botanik und Zoologie zu seiu, und die Knnstwerke
entstehen nicht, u m wissenschaftlich betrachtet zu werden. Sie sind
selber nicht nur nebenbei, sie sind vor allem Leben. Wenn Kunst-

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