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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 10 (2. Februarheft 1910)
DOI Artikel:
Spieß, Karl: Vom religiösen Volksleben
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0282
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Iahrg. 23 Zweites Februarheft19!0 Heft 10^

Vom religiösen Volksleben

^^ie Erörterung der theologischen Probleme übernimmt die theo-
>-^logische Wissenschaft, die Anwendung ihrer Ergebnisse auf die
konkreten Verhältnisse, die Pflege des religiösen Lebens, ist
Sache der Kirche. Da kann es an einer bald offnen, bald verborge-
nen Spannung zwischen beiden nicht fehlen. Die Kirche als ein
Erzeugnis der geschichtlichen Vergangenheit ist sehr empfindlich gegen
jede Kritik an den Grundlagen, auf denen sie ruht. Die theologische
Wissenschaft aber kann sich als Wissenschaft das Ergebnis ihrer
Forschungen nicht vorschreiben lassen und muß auch da jeden Ein-
griff von außen ablehnen, wo sie der gerade herrschenden kirchlichen
Religiosität unbequem wird. Auf protestantischem Boden wird ihr
diese Freiheit im Prinzip zugestanden, wenngleich es auch hier an
Versuchen nicht fehlt, auf ihre Arbeit in kirchlichem Sinne einzuwirken.

Eine Spannung ganz ähnlicher Art besteht inncrhalb der Kirche
selbst zwischen der kirchlichen Religiosität und dem religiösen Volks-
leben. Sie geht auf dieselben Gegensätze zurück. Wo die Frömmig-
keit wirklich lebendig ist, wird sie stets eine persönliche Note tragen.

Der christliche Eharakter ihrer Religiosität ist etwas allen Christen
Gemeinsames, aber die Betonung und Bewertung der cinzelnen
Momente ist stets individuell verschieden. Die individuelle Färbung
der Frömmigkeit bleibt aber auch dann bestehen, wenn es sich nicht
um hervorragende Einzelmenschen, sondern um breitcre Schichten der
Bevölkerung handelt, welche, von gleicher Abstammung, auch unter
denselben äußeren Lebensbedingungen stehen. Es bildet sich dann
der Typus der Volksfrömmigkeit heraus, die bei den einzelnen Be-
völkerungskreisen wieder durchaus besondere Züge trägt. Dasselbe
Bild zeigt sich uns vergrößert, wenn wir die verschiedenen christlichen
Völker miteinander vergleicheu. Man braucht sich nur zu vergegen-
wärtigen, wie fremdartig und unsympathisch uns z. B. der ameri-
kanische Frömmigkeitstypus berührt, um zu erkenneu, wie groß auch
hier die Unterschiede sein können.

Neben solchen Typen hat sich aber schon sehr früh ein offizielles
kirchliches Frömmigkeitsideal ausgebildet. In der katholischen Kirche
hat es bis zu einem gewissen Grade über die Reguugen volkstüm-
licher Eigenart gesiegt, freilich mit der Nebenwirkuug, daß sich volks-
tümliche Anschauungen aus dem Heidentum in den Aberglauben flüch-
teten. Die mittelalterliche Kirche war duldsam dagegen und ver-
minderte dadurch die Spannung zwischen kirchlicher Frömmigkeit und
volkstümlicher Religiosität. Nur was sich auf keinerlei Weise mit
dem Christentum vereinigen ließ, wurde ausgerottet.

Mit der Reformation ward die Spannung wieder größer: der
Protestantismus konnte auf die Dauer gegen diese halb heidnischen,
halb katholischen Volksvorstellungen nicht so tolerant bleiben wie
es das Mittelalter gewesen war. Immerhin ist die Orthodoxie selbst
gegen den Hcxenglauben duldsamer gewesen als gegen kalvinistische

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