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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 10 (2. Februarheft 1910)
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Sprechsaal
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0312
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Rundschau

Disziplin und Kultur

Drei neue Bücher zur Aus-
druckskultur

^vvrcnn neue Gedankenmasscn auf
-^»^den Markt der Geschichte ge-
worfen werden, dann pflegen diese
Gedanken — ganz wie die mate-
riellen Werte — die verschieden-
sten Wertformen anzunehmen, und
in den verschiedensten Gestalten
im geistigen Verkehr zu kreisen.
Den bleibendcn Gehalt einer be-
stimmten Gruppe von Problcmen,
die vor kurzem wiedcr einmal in
das Licht der Geschichte getreten ist,
hat Nietzsche ausgeprägt in ciner
Münzart, die als Bild ein Me-
dusenantlitz, als Schrift sein Leee
komo trägt. Diese eindrucksvollen
Insignien haben es lange über-
schen lassen, daß es mehr als
eine Möglichkeit gibt, das „Mate-
riatur" der Probleme Nietzsches
auszuwerten. Sein Zentralpro-
blem, das Problem des Aber-
menschen, stellt sich, der kos-
mischcu Beitatcn Nietzsches ent-
kleidet, dar als die Aufgabe der
kunstvollen Höherzüchtung gcwisser
Menschcntypen übcr dcn Zustand
hinaus, in dem sie die Kausalität
der Natur verlassen hat. „Äber-
mensch" ist ein Verhältnisbcgriff,
der immer nur Sinn hat, bezogen
auf einen „Anter-", das ist einen
Normalmcnschen, daher denn mit
dem Wandcl, dcn der Vcgriff Nor-
malmensch erfährt, auch das wech-
seln muß, was einen Abermenschen
ausmacht. Ist abcr auch der Abcr-
mensch ein Vielgcbilde, so ist doch
die Art und Weise seiner tzeran-
bildung aus dem gemeinen Men-
schenmaterial für alle Epochen ge-
nau so eindeutig bcstimmt, wie
die Heranbildung einer Bienen-
königin aus einer Arbeiterin. An

dem Prozeß, der dieses für den
Menschen bewirkt, möchte ich zwei
Momente unterscheiden: das der
Disziplin und das der Kultur.
Den Inhalt beider Begriffe legen
wir mit Kant dahin fest: „Man
nennt den Zwang, wodurch der
beständige Hang, von gcwissen Re-
geln abzuwcichen, eingeschränkt und
endlich vertilgt wird, die Diszi-
Plin. Sie ist von der Kultur*
unterschiedcn, welchc bloß eine Fer-
tigkeit verschaffen soll, ohne eine
andere, schon vorhandene dagegen
aufztrheben. Zu der Bildung eines
Talentes, welches schon für sich
selbst einen Antrieb zur Außerung
hat, wird also die Disziplin cinen
negativen, die Kultur aber und
Doktrin einen positiven Beitrag
leistcn.« Disziplin und Kultur sind,
in der von Kant ihnen angewie-
senen Bedeutung, die Determinan-
ten aller Bildung, daher denn
auch wir, bei unsren Bemühungen
um dic Bildung des Ausdruckes
eine Disziplin des Ausdruckes
von einer Kultur dcs Ausdruckes
werden untcrscheidcn müssen. Wir
werdcn hcute vorzüglich vou Din-
gen handeln, die hier dic Diszi-
plin angehen. Von dcn beiden:
Disziplin und Kultur ist die Diszi-
plin eine bewahrende, gliederndc,
die Kultur eine erwerbende, bau-
meisterliche Macht. Was die For-
men von Disziplin und Kultur
angeht, so erkcnnt die Wissenschaft
der organischen Bildung, die heu-
tige Biologie, kein Gesetz an, das
das Auftretcn von neuen Eigen-
schaften bestimmte. Dagegen nennt

* Kant braucht hier das Wort
„Kultur" natürlich in einem Sinn,
unter den wir auch den Begriff
„Zivilisation" einordnen würden.

K.-L.

§ 2. Februarheft MO 255

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