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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 12 (2. Märzheft 1910)
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Avenarius, Ferdinand: Ostergedanken
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0449
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Iahrg. 23 Zweites Märzheft 1910 Heft 12

Ostergedanken

^Lvarl Lamprecht hat nach der großen Wahlrechtsrede Bethmann-
tzollwegs ein Bekenntnis abgelegt, das beinahe klingt wie ein
^ ^ Ostergesang. Das sei voll neuem Ton und neuem Geist, was
Bethmann da gesprochen, das weise ins Kommende! Zwei Menschen--
alter vorwiegend wirtschaftlicher und sozialer Lntwicklung liegen, sagt
Lamprecht, hinter uns, wir freuen uns ihrer, denn erst durch sie sind
wir nach dem Unheil des Dreißigjährigen Krieges den andern führen-
den Nationen Europas wirtschaftlich einigermaßen gleich geworden
an Kraft. Aber das Wachstum ging nur nach einer Seite hin.
Die geistigen Interessen sowohl wie auch die rein politischen blieben
zurück. Lndlich hat sich's auch in ihnen geregt, und nun geht's rasch,
denn geistige Entwicklungen verlaufen schneller als stoffliche. Ein
neuer Idealismus ist da: „der Heimatkunst sind höhere Ideale in
Malerei und Dichtung gefolgt; ein neuer Baustil hat sich entfaltet;
starke religiose Sehnsuchten durchfluten die Kreise der Gebildeten;
kräftige neue ethische Werte sind aufgstancht". Und all das drängt
aus dem Reich der Ideen heraus, um Wirklichkeit zu werden oder
Wirklichkeiten zu schaffen. Außerlich zwar leben wir noch wie in der
materiellen Zeit, „la nuiion s'amuss". Aber das kann ja schon des--
halb nicht lange mehr so bleiben, weil wir in der staatlichen und
politischen Unterstützung unsrer wirtschaftlichen Blüte an den äußersten
Schranken angelangt sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird in der
Wirtschaft nun eine Weile gesättigten Stillstandes kommen. Die
können wir gerade brauchen, denn sie bedeutet: eine Zeit starker gei-
stiger Reaktion gegen rein materielle Lebensauffassung, gegen „Alacht-
politik" und „Ellbogenfreiheit« auf religiösem und ethischem Gsbiet,
gegen Verrohung der Sitte und Phantasietätigkeit. gegen den Vorrang
wirtschaftlicher Interessen. Sehen wir denn die Anfänge zu all
dem nicht schon? Im Ringen mehr als eines Iahrzehntes haben sich
ideale Energien aufgespeichert, nun sind sie bereit, nach außen zu be-
wegen. Und mit den Sorgen um die Erziehung eines neuen Menschen
wird sich das Problem einer höheren politischen Kultur offenbarlich
verbinden. Auch das spüren wir ja schon. - So Lamprecht, der schließ-
lich Bethmanns Rede begrüßt, weil man bei scharsem Hinhören auch
in ihr solchen Geist als Anterton vernehme. Das sei der L^anzler des
Umschwungs, der Kanzler der geistig Regen, die mehr von Mund
zu Mund als in der Tagespresse zu sprechen pflegsn, dcr geistig Füh-
renden, die langsam wirken, aber entscheidend.*

Seltsam genug, daß ein reicher und feiner Kopf wis Lamprecht
so von einer Rede berührt wurde, in der andre gescheite Männer,
auch solche, die Lamprecht den politischen Wünschen nach schwerlich
fernstehen, Geist von Metternichs Geiste spürten. Daß die eingeschwore-

* Der Wortlaut von Lamprechts Auslassung stcht in den „Leipziger
Neuesten Nachrichten" vom s5. Februar.

2. Märzheft WO 565
 
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