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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 7 (1. Januarheft 1910)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0036
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tümer des Systems aufzudecken. Lju sagte, ohne den Grundsatz, daß
jeder einzelne serne Pflicht zu erfüllen habe, köune keirr gesellschaftliches
Shstem sich halten. Er glaube, das herrschende Shstem habe den Fehler,
das Pflichtgefühl nicht auszubilden, weil es lauter Gesetze und Vorschrif--
ten an dessen Stelle gcsetzt habe. Dies sei für eine primitive Kultur
berechtigt, jetzt aber sei das Volk keine Herde mehr, sondern bestehe aus
Individucn. Kein Kunstverständiger werde die bhzantinische Malerei mit
ihren starren Fornren nicht bewundcrn; man könne es vielleicht sogar
beklagen, datz der Individualismus sie durchbrochen habe; man könne
viellcicht sogar glauben und wünschen, daß man einmal auf irgendwelchen
Umwegen dahin zurückkehre; aber verständigerweise köune man doch nicht
die Entwicklung auf jeue Stufe zurückdrehen wollen.

Er sprach so liebenswürdig, galant und beinahe herzlich gegen Papa,
daß der ganz angeregt wurde und lebhaft auf alles einging; ich glaube,
er hatte das Gefühl, vollkonrmen einer Meinnng mit Lju zu sein.

Bei Tisch waren also die Fugen wieder eingerenkt; aber hernach ergoß
srch Katjas zurückgehaltener Zorn gegen Lju. Er hätte sich verächtlich be--
nommen, er hätte zu ihr halten müssen, denn er dächte ebenso wie sie.
Was er gesagt hätte, möchte ganz schön sein, sie hätte es nicht verstarrden,
wolle es auch nicht verstehen, es wäre doch nur eiue Brühe gewesen, um
seine wahren Ansichten zu verkleistern. Von mir erwartete sie ja nichts
andres, als daß ich falsch und feig wäre, aber ihn hätte sie für stolzer
gehalten. Sie war zu uiedlich, wie ein kleiner Vogel, dcr gererzt wird und
sein Fcderschöpfchen sträubt, mit dem Schnabel um sich pickt und in
den höchsten Tönen lospiepst. Lju fand sie offenbar auch niedlich, denn
er ging sehr liebevoll auf ihren Kohl ein.

Welja an Peter

^>ch saß, noch erschöpft von gcstern — denn seit Lju fort* ist, muß ich
O rmmer bis Mitternacht auf der Lauer liegcn, weil Manra Gefahren wit--
tert —, also ich saß in der Bibliothek und blätterte in einem Buche, als
Katja wie ein wirbelnder Federball herein und ans Telephon gestürzt kam.
Damit Dein Gehirn nicht ebenso erschüttert wird, wie meins bei dicser
Gelegenheit wurde, will ich Dir zur Erklärung voranschickcn, daß Katja
soeben Iessika dabei betroffen hatte, daß sie einen Brief an Lju schrieb,
und daß Icssika, von Katja zur Nede gestellt, damit hcrausgeplatzt war,
sie liebte Lju und wäre so gut wie verlobt mit ihm. Ich mußte dics
schließen und erraten, was ich Deinem Walfischschädel nicht zumuten will.

Also Katja verbindet sich mit Petersburg. Ich frage, mit wem sie
redcn will. Mit Ljn, obgleich mich das nichts anginge. Ich sage, du
kannst doch wohl so lange warten, bis er wieder hier ist, so wichtig wird
es nicht sein. Sie: „Kannst Du das beurteilen? Hier werde ich übcrhaupt
nicht mchr mit ihm sprechen und bedaure, es jemals getan zu haben." Ich:
„Alle Heiligen!" In dcm Angenblicke klingelt das Lelcphon, Katja er°-
greift es. „Sind Sie da?" Quak, quak, quak... Ich will Ihnen nur
sagen, daß ich Sie verachte! Quak, quak... Sie sind ein Heuchler, eine
Oualle, ein Iudas! Ouak, quak, quak, quak. Bitte, leugnen Sie nicht!
Sie habcn die Stirn, sich zu verteidigen? Sie haben mich genug belogen!

* vorübergehend


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