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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 9 (1. Februarheft 1910)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0203
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du dir bereits Bijous Hilse gesichert hast." Sie konute sich diesen gelinden
Seitenhieb nicht versagen; die Witwe war aber noch zu aufgeregt, um Notiz
davon zu nehmen.

„Ia, wenn du willst, komm nur mit", wimmerte sie. „Ich fuhr aus,
um dich abzuholen, stellte mir aber nicht vor, was für ein Anglück ich mir
damit bereitete. Laß uns nur aus dieser abscheulichen, gemeinen Gegend
fortkommcn. Ich sehe nicht ein, wcshalb du mit der Anterstützung, die
ich dir zuwende, nicht in einem anständigen Viertel mieten kannst. Der
„Gerade Kanal" ist freilich gut genug für dich, natürlich am äußersten Ende.
Aber ich kann nicht warten, bis du dcinen Hut geholt hast. Ich fühle mich
sehr unwohl und muß nach Hause."

Sie fuhren also zusammen nach Frau Barsselius' Wohnung, die Witwe
immer noch schnaubend, keuchend und scheltend. Als sie nach uird nach
cinige der am schlimmsten zerknitterten Federn ihres Hutes wieder glatt
gestrichen hatten, begann sie einzusehen, daß sie, weil sie doch einmal den
Wagen bestellt und sich auf die Fahrt vorbereitet hatte, ebeusowohl ihre
Neugierdc befriedigen und sich einmal nach dem Stande der Dinge in
Whk erkundigen könne. And sie fühlte, daß sich ihr keine bessere Gelegen-
heit bieten würde, ihrem Anwillen gegen Adelaide Luft zu machen, als
die unglückliche alte Iungfer während einer zweistündigen Fahrt zu sich
in die Kutsche zu nehmen.

„Die Luft wird mir gut tun", meinte sie, als sie Mejuffrouw Vonk
bat, das Wagenfenster ein paar Zoll Herunterzulassen. „Nein, ncin, wir
können wegcn deines Hutes nicht noch einmal zurückkehren; cntweder du
fährst ohnc Hut mit bis Wyk, oder du gehst von hier aus nach Hause, so
wie du bist. Ich darf wohl behaupten, daß man in deiner Nachbarschaft
nicht an Hüte gcwöhnt ist und wahrscheinlich niemand einen Hut bei dir
vermissen wird."

Sie ging von der Voraussetzung aus, Adelaide habe den ganzen von
ihr durchgemachten Vorgang nur ins Werk gesetzt, um sie zu verhöhnen,
und sie blieb um so hartnäckiger dabei, je weniger sie sich fähig fühltc, dies
zu beweisen. Zuletzt, in der Hitze des Wortgefechtes, zögerte sie nicht,
Adclaidens entrüstete Frage, ob sie am Endc glaube, der Säugling sei
cxtra deshalb geborcn, mit einem entschiedcnen „Ia" zu beantworten.

„Zeige mir doch einmal deine vorgebliche Wärterin!" rief sie trium--
phierend ans, als ob sie dadurch ihren Bcwcis verstärken könnte. „Zeige
sie mir doch! Du weißt, daß du das nicht kannst. Du hast gar kcine
Wärterin mir vorzuzeigen."

„Nein, in meiner Tasche steckt sie allerdings nicht," erwiderte Adelaide,
„aber wenn Lu morgen in meine Wohnung kommen willst — —"

„I ch in das schmutzige Haus zurückkehren!« schnaubte die Barssclius.
„Noch eiu zweites Mal zu riskieren, daß ich Angeziefer bekomme, wenn
ich es nicht schon habe. Du bist gar zu freundlich, Adelaide, wirklich, allzu
licbenswürdig. Nein, danke; ich habe gcrade genug an dcm Besuch von
Hütten, Schmutzkasten, Schweincställen und Misthaufen — ja, Mist-
haufen. Da mußt du mich wirklich entschuldigen."

Mejuffrouw Vonk war zu Ende mit ihrer von Natur eng begrenzten
Geduld, die sie nur künstlich und, man muß es gestchen, in Anbetracht ihres
Vermächtnisses außerordentlich ausgedchnt hatte, sie fragte deshalb nur
noch spitzig: „Willst du vielleicht damit andeutcn, Anna Maria, daß ich

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