Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

DOI issue:
Heft 10 (2. Februarheft 1910)
DOI article:
Spieß, Karl: Vom religiösen Volksleben
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0290
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
politischeir Einflusses. Ich brauche zum Beweis nur an die Eugländer
zu erinneru. Und daran: daß es von jeher eine Schwäche der Deut-
schen gewesen ist, ihre völkische Eigenart zu verleugnen und sich in
der Nachahmung anderer Völker zu gefallen. Die Pflege unsres
deutschen Volkstums ist eine Lebenssrage für unser Volk.

Deshalb kann auch die Frage, wie eine Pflege des religiösen
Lebens in heimatlicher und volkstümlicher Gestalt möglich sei, nicht
eine innere Angelegenheit eines einzelnen Standes heißen. Auch
sie ist von allgemeinster Bedeutung. Björnson sagt in Synöve Sol-
bakken: „Man kann norwegische Bauern, weder gute noch schlechte,
nicht zeichnen, ohne irgendwo mit der Kirche in Berührung zu kommen."
Man kann ein eigenartiges Volkstum nicht haben und erhalten ohne
volkstümliche Frömmigkeit. Bei allen volkstümlichen Fragen stößt
man ja in der Tiefe auf den religiösen Untergrund. Das gesamte Welt-
bild, die volkstümliche Weltanschauung, ist religiös gefärbt. Der ganze
Baum des geistigen Lebens im Volk saugt bis in seine feinen Ver-
zweigungen hinein den Saft aus religiösem Boden. Man kann sich
anch den deutschen Bauer nicht denken ohne Frömmigkeit, sei sie nun
so oder so. Schon die zahlreichen Anlässe, die ihn während seines
Lebens mit der Kirche in Berührung bringen und die für ihn zugleich
auch Höhepunkte seines Daseins bedeuten, sind Bande, die sich nicht
leicht lockern. Auch der freigeistige und aufgeklärte Bauer hält an den
sinnvollen Bräuchen, mit denen seine Väter diese Anlässe ausgeschmückt
haben, aus innerem Zwange fest, auch er hat Religion. Man sucht so
oft die letzten Arsprünge volkstümlicher Gebräuche im grauen Heiden-
tum. Selbst wenn das im weitesten Amfang richtig wäre, so würde
gerade dadurch ihr religiöser Charakter nur bewiesen. Aber man
braucht, wenn man nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit diesen
Fragen nachforschcn will, nicht so weit zurückzugehen; denn auch heute
noch ist das Volksgemüt schöpferisch tätig und bringt Neues hervor.
Sobald man die Wurzel aufdeckt, findet man auch hier immer, daß es
aus Religiösem heraus schafft. Nnd wie zahlreich sind in Lied und
Sage und Märchen die religiösen Motive! Wer die Frage ausschaltet,
wie man volkstümliche Frömmigkeit in heimatlicher Gestalt kennen
lernt und Pflegt, der kann auch unser Volkstum als solches nicht
erkennen und pflegen.

Würde nicht schon von hier aus sich die Notwendigkeit ergeben,
diese Frage auch vor einem größeren Kreise von solchen zu be-
handeln, die an ihrer Lösung nicht unmittelbar praktisch beteiligt sind,
so müßte dies schon um deswillen geschehen, weil wir um Mitarbeiter
werben müssen. Die Schwierigkeiten, die gerade den Nächstbeteiligten
crwachsen, wurden oben schon berührt. Die Volksfrömmigkeit ist so un-
theologisch wie möglich, so daß der theologische Laie ihr geistig und
seelisch viel näher steht. Besonders gilt dies von solchen, die mit künst-
lerischem Instinkt die seelischen Vorbedingungen und Grundlagen der
Frömmigkeit erfassen und die oft verwickelten seelischen Vorgänge nach-
cmpfinden können.

Es ist also keineswegs eine rein kirchliche Frage, wie unserem Volk
eine religiöse Erziehung im Geiste bodenständiger Eigenart und aus
vollstem Verständnis für volkstümliches Wesen zuteil werden kann.

2. Februarheft chiO 233
 
Annotationen