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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 12 (2. Märzheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0490
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hinein, bis ihm der Kopf auf die
Palette sinkt, ,so fand mich oft
meine Frau, und wie ich dann
aussah, können Sie sich wohl den-
ken", schreibt er. Ehrgeizig sind
sie nicht, unsre Arbeiterdilettan-
ten! „Mir gleichgültig, wie die
Berlkner über meine Bilder denken,
merne Freude an der Natur ver-
liere ich darum nicht", schreibt ein
Eisendreher. „Am licbsten möchte
ich meine Bilder nicht verkaufen"
— ist ein Refrain, der erfreulicher--
weise recht oft ertönt. Mit welch
primitiven Mitteln wurde zuweilen
dem seelischen Drange Ausdruck
verliehen! Jene Plastik, die den
ersten Menschen verkörpert, sitzt
auf einer leeren Bratheringsdose,
und jener wundersame Baumstumpf,
den fletschend der Ichthyosaurus
erklettert, birgt eine Kohlbüchse.
Ein Dreher, Vater von fünf Kin-
dern, hält eine alltägliche Szene
plastisch fest: ein Weinrestaurant.
Hinter der hohen Spiegelscheibe ein
Mann und ein Weib Champagner
trinkend, davor ein ausgehunger-
ter Armer. Die „Mutigen" nennt
er sein Werk. Aber schweigsame
Naturen sind sie fast durchweg, diese
Arbeiterkünstler. Kontemplative
Menschen, die sich durchgerungen
haben, Menschen, von denen wir
sehr viel lernen können. Die weit--
aus meisten dieser Arbeiterdilet-
tanten sind Analkoholiker, darum
vielleicht die Verfeinerung der seeli-
lischen Kräfte, die Sehnsucht nach
der Linie und den Farben. Ge-
wiß, die meisten der Arbeiterkünst-
ler sind ökonomisch und technisch
versklavte Menschen, vielleicht aber
ist es wahr, daß das Weben der
Phantasie hart an der Hunger-
grenze beginnt und sogar Lust-
gefühle erzeugt. Darin liegt die
kulturelle Bedeutung der Arbeiter-
dilettantenkunstausstellung: in der
Erweckung von Lustgefühlen durch

die Kunstbetätigung. Diese Lust
im Proletariat zu mehren, sollte
uns der soziale Utilitarismus
befehlen. Lust ist aber an sich
tzoffnung, und diese muß das Aber-
gewicht haben, wenn nicht Ver-
zweiflung und Lethargie eintreten
sollen. Bon den Arbeiterkünstlern
gilt das Wort, das mir einst Pro-
fessor Harnack schrieb: „Sie ge°
hören sämtlich zu dem Geschlecht,
das aus dem Dunkeln ins Helle
strebt, und indem sie dies so kräftig
betonen, fühle ich mich ihnen ver-
wandt, so verschieden meine Welt-
anschauung ist."

Wie oft wurde die Frage ge-
stellt, wie es möglich war, die Bil-
der zusammenzubringen. oder
welche Methode angewandt wurde.
Als ob sich das lebenswarme In-
dividuum mit seinen komplizierten
Gefühlsnuancen in Methoden pres-
sen ließe.

Eine sehr weit umfassende wissen-
schaftliche Untersuchung brachte mich
mit vielen Tausenden von Arbeitern
in Berührung. Hier und dort ge°
lang es feinste seelische Fäden zu
knüpfen, sie enger zu ziehen er°
forderte eine weitausgedehnte
Privatkorrespondenz. Ein ganz in-
dividuelles Vorgehen ermöglichte
erst, die tief innerlichen Triebe dcs
Arbeiters zu analysieren und das
seelische Füllbecken zum Aberfluten
zu bringen. Schwer ist es, dem Pro-
letarier in sein Inneres zu sehen.
Menschen, die mit einem Lebens-
schema zur Welt kommen, sind meist
schweigsam, weil ihr ganzes Leben
nichts ist, als eine monotone Kette
ewiger unauskömmlicher Arbeit,
Freudlosigkeit des Dascins, Ato-
misierung des Lebensplanes. Aber
da in der Tiefe schlummern wunder-
bare Kräfte, leben sonnentüchtige
Menschen von einer Höhe der Welt-
anschauung, der ich nur staunend
zu folgen vermochte. So wurden

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