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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 12 (2. Märzheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0498
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scheinerr. Sie imitieren als „ästhe-
tische Gebärde", was beim abge-
arbeiteten Manne immerhin einen
phhsiologischen Entschuldigungs--
grund HLtte. Karl Lschuppik

Aus dem Seelenleben des
vierten Standes

ine neue Art von Memoiren-
literatur beginnt sich zu ent-
wickeln. Paul Göhre läßt den
von ihm herausgegebenen beiden
Selbstbiographien von Arbeitern
eine dritte folgen: Wenzel Ho-
leks Lebensgang eines deutsch-
tschechischen Handarbeiters (bei Eugen
Diederichs in Iena), und der Ber-
liner Arzt und Sozialpsycholog
Or. Levenstein, der Veranstalter
der 'Arbeiterkunstausstcllung, gibt
in zwei im Morgen-Verlag er-
schienenen Bändchen („Arbeiter-
philosophen und -Dichter" und
„Aus der Licfe, Beiträge zur
Seelenanalyse moderner Arbeiter")
kürzere Dokumente des geistigen
Lebens im Proletariat. Diese Be-
kenntnisse sind durchwegs sozio-
logisch von hohem Werte. Man
sieht hier von der homogenen
Masse des vierten Standes ein-
zelne Individualitäten sich los-
lösen, die in ihrem Fühlen und
Denken wenn nicht die ganze Ar-
beiterschaft, so doch weite Kreise
in ihr repräsentieren. Trotz aller
persönlichen Unterschiede kann man
von einer thpischen Lebensform
reden, die ihnen allen gemeinsam
ist. Sie stammen sehr oft vom
Lande, aus dem sehr gedrückten
ländlichen Proletariat und wer-
den, wie vor allem Holek (der
die Ursachen der Landflucht leben-
dig und unmittelbar vor Angen
führt) „von der Not getrieben
oder von dem Glanz der höheren
Löhne in die Stadt gezogen, um
sich dort auch ein kleines Ka-
pital zu erringen, _ und dann


womöglich wieder zurückzukehrcn
aufs Land". Oder sie kommen
aus dem alten Handwerk, das
sie (gewöhnlich ungern) aus
Mangel an Arbeit verlassen müs-
sen. Oder (dieser Fall ist nur
bei den jüngeren häufiger) sie
stammen aus dem Llteren Indu-
strieproletariat. Alle sind ohne
väterliche Tradition, ohne die Aber-
lieferung eines ererbten Berufes
oder Besitzes, einer überkomme-
nen Lebensanschauung und Da-
seinsform, alle sind losgelöst von
der Vergangenheit und in einen
Zustand versetzt, für den sie bei
ihren Vätern oder Lehrern kein
Vorbild oder wenigstens nur ein
sehr unvollkommenes finden konn-
ten. Alle verleben eine harte,
vorzeitig dem Erwerbe gewidmete
Iugend, fast alle genießen keinen
regelrechten zureichenden Unterricht
— ein Umstand, den sie dann oft
als das schwerste ihrer Lebensübel
empfinden. Sie werden dann meist
unstet je nach den spärlichen, oft
vcrsagenden Erwerbsmöglichkeiten
umhergetrieben und gelangen selten
zu einem dauernden Besitz. Dieses
nahezu vagierende, vielfach außer-
halb der Gesellschaft verbrachte
Leben bekommt (meist sehr früh)
dadurch Festigkeit und einen be°
stimmten sozialen Charakter, daß
sie Weib und Kind ernähren
müssen. Doch haben viele (die
meisten Bekenntnisse greifen aller-
dings bis in die achtziger Iahre
und weiter zurück) nicht etwa von
vornherein das Bewußtsein, einer
bestimmten Klasse anzugehören. Sie
trachten hie und da, zu einem
kleinbürgerlichen Dasein aufzustei-
gen, begründen kleine Geschäfte,
versuchen sich in verschiedenen Be-
rufen — die hier Vertretenen alle
mit völligem Mißerfolg. Sie stehen
der kapitalistischen Wirtschaftsord-
nung in geistiger und materieller

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