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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 12 (2. Märzheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0501
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nigstens jene Naivität, die „das
Volk" dort hat, wo es seine Volks-
lieder dichtet. Man fühlt, wie
diesen Menschen des heutigen vier--
ten Standes die Breite und Fülle
des Daseins versagt ist, die dem
Einfachstcn von ehemals in sein
Lied mit hineingeklungen hat, wie
sie (wenigstens, soweit sie hier zu
Worte kommen) nur durch einen
dürftig-schmalen, oft qualvoll engen
Auslug in die Welt zu sehen
vermögen und es im besten Falle
zu einem gezwungenen, krampf-
haften Selbstgefühl, zu einer Art
trotziger Selbstbehauptung bringen.
Einer Selbstbchauptung, die sich
bei den Vorgeschrittensten gegen
zwei Dinge zugleich richten muß:
einmal gegen das kapitalistische
System, das sie dazu verdammt,
ertötende Handarbeit zu verrichten,
und dann gegen die stumpfe Masse,
zu der sie gehören, und die doch
ihr einziger Halt, der Träger ihres
Heils und ihrer Religion ist. Der
Bergarbeiter Max Lotz, der ja
freilich ein Ausnahmemensch ist
voll ungelöster und bis zu einem
gewissen Grade künstlerisch frucht-
barer Widersprüche, gerät in
seinem Grübeln bis an das Ende
dieser ganzen ringenden Geistes-
welt. „Nur durch die Masse wird
die sozialistische Idee zur Tat.
Also in der Masse liegt die Hoff-
nung, Mensch zu werdcn. — Aber
nun kommt das Bittere, das mich
auch gleichzeitig wicder zur Hoff-
nungslosigkeit verdammt. Wird die
Masse wirklich menschlich er°
wachen? Wird die physische De-
mokratie auch die intellektuelle
wirklich fördern? Oder wird das
Wesen der Einzelegoisten durch
den abstrakten Masseneigennutz
abgelöst? Weiter darüber hinaus
wage ich nicht zu denken." Das
ist nicht die einzige Stelle in
diesen Bekenntnissen, wo etwas wie

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ein Versagen der marxistischcn
Idee fühlbar wird, eine Unfähig-
keit, das Letzte, die Erlösung, die
innerste Bcfreiung zu geben. So
spiegeln diese Bekenntnisse über-
haupt durchaus einen Abergangs-
zustand: viel tragisch gehemmtes,
nicht nur äußerlich, auch innerlich
ersticktes Ringen und fast nirgends
ein sicheres Ruhen in irgendeinem
festen geistigen und seelischen Be°
sitze.

Nicht zu vergessen ist dabei frei-
lich, daß die von Levenstein mit
großer Hingabe gesammelten Zeug-
nisse immerhin meist das Fühlen
der Vorgeschrittencn wiedcrgeben.
Wieweit sie also den Typus dar-
stellen, ist nicht ohne weiteres zu
erkennen. Weit schlichter, als
Thpus zuverlässiger, in jeder Hin-
sicht dem Normalen näher ist der
Lebenslauf Holeks. Nüchtern und
fast in der Art einer soliden
alten Chronik sind hier alle die
Mühsale eines ungelernten Ar-
beiters aufgezeichnet, der an den
Anfängen der sozialistischen Be°
wegung teilnimmt, ihr innere För-
derung bis zu einer crstaunlichen
intellektuellen Höhe und gleich-
zeitig äußere Verfolgung bis zum
Märtyrerlum verdankt. Besonders
wertvoll sind diese Aufzeichnungcn
durch die Bilder aus dem dcutsch-
tschechischen Grenzgebiete, dessen
eigenartige Kulturzustände mit un°
gewöhnlicher Trcue wiedergegeben
sind, und durch die Person des
Verfassers selber. Der aus seiner
agrarischen Heimat durch die Not
vertriebene tschechische Landarbeiter,
der damals noch im deutschen In-
dustriebezirke germanisiert wurde,
ist nicht nur für Nordböhmen und
Ssterreich, auch für die reichsdcut-
schen angrenzenden Gebiete ein
bedeutungsvoller Thpus. So sind
Holeks Erinnerungen im ganzen
neben den von Levenstein veröffent-

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