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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

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Heft 16 (2. Maiheft 1911)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0301
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alte Schwester sagte: gegen Gott und die Welt undankbare Anschauungen
und wurde freundlich, aber bestimmt, zurechtgewiesen. Karoline hieß sie,
und es ist ein Charakterzug, daß sie sich nie, von Kindsbeinen an, auf
so etwas wie „Lina", „Line" oder „Linchen" einließ und daraufhin kam,
wcnn man ihr rief.

Geheimrat Fehcrabcnd erfreute sich der Beaufsichtigung, Bevormun-
dung, Bemutterung durch sie in allen menschlichen und göttlichen Dingen
in einer Art und Weise, die alle von Menschen gegen sich selber in
Staat und Kirche aufgerichteten Schutzwchren für ihn persönlich über-
flüssig machten. Zehn bis zwölf Iahre war das Kind jünger als er,
aber daß das je ihrer Autorität Abbruch gctan hätte, hatte er nie be°
merkt und seine dicnende Hausgenossenschaft ebenfalls nicht. Sie hatten
alle noch immer ihrcm besseren Verständnis sich fügen oder, wie er sich
ausdrückte: ihr klein bcigeben müssen. Klüger als sie war sie stets, und
nie zu ihrcm, des Bruders und des Hauses Nachteil, wenn das häufig
auch nur widerwillig und mit Gemurre anerkannt wurde. —

Nach dem, was auch sie ihres Herrn Bruders großartigen „Ehren-
tag" nannte, gefiel ihr der „alte Iunge" bald gar nicht recht mehr. Mit
ihrem Fritz reichte sie auch noch in die Zeit zurück, wo in den Schul-
anthologien der sicbzigste Geburtstag vom braven I. H. Voß noch zu
findcn war als ein Musterstück für die dcutsche Iugend. Und da das
gute Mädchen allc scinc Schulbücher in seinem Bücherschränkchen auf-
bcwahrte, so griff es selbstverständlich auch für den vorliegcnden Fall
hinein und holtc das Sachdienliche hcraus. Merkwürdigerweise aber
bcnutzte Fräulein Karoline Feherabcnd die Idylle als ein warnendes
Exemplar und den rcdlichcn Lamm, „l'eit vierzig Iahren in Stolz, dem
gescgneten Frcidorf, Organist, Schulmeister zugleich und ehrsamer Küster"
— um ihrem Bruder eine Rede zu halten, welche das liebe Mütterchen
Tamm sichcrlich in nicht ungerechtfertigtes Erstaunen versetzt habcn würde.

„Höre mal, Ganz Geheimer (seit seiner demgemäßen Betitelung gab
auch sie ihm dic Ehre davon), eines sage ich dir: Daß du mir jetzt nicht
zu früh ein alter Mann wirst! Klateriges, winseliges Hinhocken in Ehren
und Würden, wenn man den alten Kaiser, den alten Bismarck, den alten
Roon und Moltke an allen Wänden aufgehängt sieht, finde ich lächerlich,
und aufs Fliegenabwehren beim Nachmittagsschlaf lasse ich mich fürs
erste bei dir auch noch nicht ein. Kommt die Zeit und hat der liebe Gott
mir bis dahin das Leben geschenkt, so weißt du, daß ich mich auch dazu
mit meinem Strickzeuge zurechtsetzen kann und es gern tun werde. Was
sind denn siebzig Iahre, wenn man noch so gut zu Beinen ist, wie du,
und, soweit ich es beurteilen kann, auch an geistigen Fähigkeiten noch
nicht merklich nachgelasscn hat? Das letztc Wort behältst dn immer noch
gern wic sonst, daran merke ich auch noch keinen Unterschicd gegen früher
und worüber nicht bloß deine gelehrte Zeitgenossenschaft, sondern auch ich
hier im Hause wohl ein Wort mitreden könnte."

Der Iubilar lächclte die wohlmeinende gute Seele frcundlich zur Tür
hinaus: er hatte sich schon von selber besten Rat gegeben.

„Bleib in den Stiefeln, Mensch! So lange als möglich. Zwackt dich
das Podagra an dcm einen Fuß, so umwickle die dumme Pfote, aber den
Stiefel zieh ferncrhin über das gesund gebliebene Glied und tritt fcst
auf. Es braucht kein Reiterstiefcl zu sein, wie der des greisen, gichtischen,

2. Maihcft W( 2U
 
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