sie weder in kleinen noch in großen
Rollen die Bretter je betreten
sehen, ohne daß sie vollkommen
zielsicher und klar das Wesen der
gedichteten Gestalt herausstellte,
wie sie es sah. Darum steckt in
jeder ihrer Leistungen ungefähr
die gleiche geistige Vorarbeit, die
eminente geistige Beherrschung ihres
Gedächtnisses, ihrer sehr prekären
Darstellmittel, der Szene und des
Gesamtwerkes. Diese Herrschgewalt
des Geistes zu empfinden, ist an
sich schon ein Genuß — der nur-
Dichter-Liebhaber verzeihe, wenn
hier auch einmal nur-Schauspiel-
freuden betont werden. Aus einem
äußerst törichten Stück, Lhsistrata
genannt und angeblich antik, machte
diese Aberlegenheit einer klugen
Frau über fünfzig andre Frauen
ein seltsames Erlebnis. Gertrud
Ehsoldt kann nicht auf der Bühne
erscheinen, ohne sogleich, und sei es
gegen die Nollenbedeutung,Interesse
zu erwecken. Nun gar wo sie führen
und lenken soll, versinkt alles unter
diesem scharfen Blick, diesen spar-
samen aber vernichtenden oder ge-
bietenden Gesten, unter diesem
Wort, das leise, gemessen, jedoch
klar und scharf erklingt und von
allem darin liegenden Erleben wie
von Obertönen mit erfüllt scheint.
Die vielbesprochene Abneigung
gegen die „denkenden" Schauspie-
ler kann man verstehen. Es gibt
ihrer, die klug, gebildet, nachdenk-
sam sind, aber das nicht verkörpern
können, was sie wohl ausgesonnen
haben. Kann es aber einer, dann
ist natürlich ein großer Wurf
sicher. Gertrud Ehsoldt kann alles,
was sie will, — wobei ununtersucht
bleibe, wieviel Beschränkung sie
ihrem Wollen im vorhinein auf-
erlegt. Trotz einer kleinen, ob-
zwar vieltonigen Stimme, ist sie
in ihrem Ensemble fast am deut-
lichsten vernehmbar, die schnellste
Sprecherin in dieser Gemeinschaft
der Schwerzüngigen. DieSchmieg-
samkeit und Leichtbeweglichkeit ihres
kleinen Körpers entspricht jener
gcistigeu Momentwechselkunst, von
der die Rede war.* Eine jedes-
mal aufs neue überraschende Eiu-
heitlichkeit durchwaltet ihr ganzes
Auftreten.
Manche Beurteiler werden alles
Gesagte anerkennen, jedoch das Ge-
leistete als „Kopfarbeit" kennzeich-
nen, während doch auf der Bühne
die Kraft des Gemütes, hervor-
brechender Innigkeit und Inner-
lichkeit nicht entbehrt werdcn kann.
Zu erweisen, daß die künstlerische
Art einer Darstellerin nicht Kopf-
arbeit allcin sei, ist nuu freilich
schwer — so fest man davon über-
zeugt sein mag. Die Herzlosigkeit
mancher bevorzugten Rolle, Pnck,
Titania, vor allem der überall be-
-kannt gewordenen Lnlu, mag so selt-
samcm Irrtum über Gertrud Ey-
soldt Vorschub geleistet haben. Ein
ähnliches, oberflächliches Urteil
über Albert Bassermann verkündet,
daß er „nicht lieben könne". And
doch ward seit langer Zeit kein so
verinnerlichter Othcllo gcsehen.
Frau Eysoldt belebte iu seltnen
Momenten sogar Lulus Kaltherzig-
keit mit ganz klcinen Zügen einer
grenzenlosen Hingabe; nicht an
einen Mann; es schien mehr: an
* Dies wird am raschestcn deut-
lich, wenn man die zahlreichen Rol-
lenphotographien von ihr betrachtet,
die alle die eindringliche Beherr-
schung aller Mittel aufweisen, wahre
Wunder von Ausdruckreichtum.
Ieder Photograph weiß zu erzäh-
len, daß cs auch unter den sehr
begabten Darstellern den meisten
unmöglich ist, eine Ausdruckstel-
lung ohne Verzerrung der inneren
Wahrheit willkürlich vor dem
Apparat einzunehmen.
3j2 Kunstwart XXIV, sk
Rollen die Bretter je betreten
sehen, ohne daß sie vollkommen
zielsicher und klar das Wesen der
gedichteten Gestalt herausstellte,
wie sie es sah. Darum steckt in
jeder ihrer Leistungen ungefähr
die gleiche geistige Vorarbeit, die
eminente geistige Beherrschung ihres
Gedächtnisses, ihrer sehr prekären
Darstellmittel, der Szene und des
Gesamtwerkes. Diese Herrschgewalt
des Geistes zu empfinden, ist an
sich schon ein Genuß — der nur-
Dichter-Liebhaber verzeihe, wenn
hier auch einmal nur-Schauspiel-
freuden betont werden. Aus einem
äußerst törichten Stück, Lhsistrata
genannt und angeblich antik, machte
diese Aberlegenheit einer klugen
Frau über fünfzig andre Frauen
ein seltsames Erlebnis. Gertrud
Ehsoldt kann nicht auf der Bühne
erscheinen, ohne sogleich, und sei es
gegen die Nollenbedeutung,Interesse
zu erwecken. Nun gar wo sie führen
und lenken soll, versinkt alles unter
diesem scharfen Blick, diesen spar-
samen aber vernichtenden oder ge-
bietenden Gesten, unter diesem
Wort, das leise, gemessen, jedoch
klar und scharf erklingt und von
allem darin liegenden Erleben wie
von Obertönen mit erfüllt scheint.
Die vielbesprochene Abneigung
gegen die „denkenden" Schauspie-
ler kann man verstehen. Es gibt
ihrer, die klug, gebildet, nachdenk-
sam sind, aber das nicht verkörpern
können, was sie wohl ausgesonnen
haben. Kann es aber einer, dann
ist natürlich ein großer Wurf
sicher. Gertrud Ehsoldt kann alles,
was sie will, — wobei ununtersucht
bleibe, wieviel Beschränkung sie
ihrem Wollen im vorhinein auf-
erlegt. Trotz einer kleinen, ob-
zwar vieltonigen Stimme, ist sie
in ihrem Ensemble fast am deut-
lichsten vernehmbar, die schnellste
Sprecherin in dieser Gemeinschaft
der Schwerzüngigen. DieSchmieg-
samkeit und Leichtbeweglichkeit ihres
kleinen Körpers entspricht jener
gcistigeu Momentwechselkunst, von
der die Rede war.* Eine jedes-
mal aufs neue überraschende Eiu-
heitlichkeit durchwaltet ihr ganzes
Auftreten.
Manche Beurteiler werden alles
Gesagte anerkennen, jedoch das Ge-
leistete als „Kopfarbeit" kennzeich-
nen, während doch auf der Bühne
die Kraft des Gemütes, hervor-
brechender Innigkeit und Inner-
lichkeit nicht entbehrt werdcn kann.
Zu erweisen, daß die künstlerische
Art einer Darstellerin nicht Kopf-
arbeit allcin sei, ist nuu freilich
schwer — so fest man davon über-
zeugt sein mag. Die Herzlosigkeit
mancher bevorzugten Rolle, Pnck,
Titania, vor allem der überall be-
-kannt gewordenen Lnlu, mag so selt-
samcm Irrtum über Gertrud Ey-
soldt Vorschub geleistet haben. Ein
ähnliches, oberflächliches Urteil
über Albert Bassermann verkündet,
daß er „nicht lieben könne". And
doch ward seit langer Zeit kein so
verinnerlichter Othcllo gcsehen.
Frau Eysoldt belebte iu seltnen
Momenten sogar Lulus Kaltherzig-
keit mit ganz klcinen Zügen einer
grenzenlosen Hingabe; nicht an
einen Mann; es schien mehr: an
* Dies wird am raschestcn deut-
lich, wenn man die zahlreichen Rol-
lenphotographien von ihr betrachtet,
die alle die eindringliche Beherr-
schung aller Mittel aufweisen, wahre
Wunder von Ausdruckreichtum.
Ieder Photograph weiß zu erzäh-
len, daß cs auch unter den sehr
begabten Darstellern den meisten
unmöglich ist, eine Ausdruckstel-
lung ohne Verzerrung der inneren
Wahrheit willkürlich vor dem
Apparat einzunehmen.
3j2 Kunstwart XXIV, sk