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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

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Heft 18
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0475
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Freude, die uns neue Naturbilder,
der Anblick fremder Menschen, Ge-
wohnheiten, Sitten, Bauten usw.
bereitet. Aber das Reisen gewährt
auch eigenartige Genüsse unabhän-
gig von dem Inhalt der Erleb-
nisse. Ohne große nachfolgende Er-
müdung fühlen wir unsre Kraft ge-
hoben, wenn immer neue Bilder an
uns vorüberziehen, sei es, daß wir
in die Berge hinaufsteigen, immer
wieder andreGegenden überschauend,
sei es, daß wir in der Eisenbahn
durch die Länder eilen. Es ist ein
Gefühl der Befreiung, ein Gefühl
der Herrschaft, ähnlich jenem, wie
es der Künstler, der Gelehrte emp-
finden, wenn sie ihre Werke schaf-
fen, wie es der frohe Handwerker
verspürt, dem eine Arbeit gelingt,
der Bauer, der den Boden be°
zwingt, solange sie nicht zu Knech-
ten einzelner oder der Gesamtheit
geworden sind. Ganz ersetzt kann
aber durch andres dicse Empfin-
dung des Neisens nicht werden,
jenes Gefühl des Dahingetragen-
werdens, wie es in den Träumen
unsrer Iugend uns ergriff, in
denen wir fliegend über die Län-
der schwebten. Keiner hat die Se-
ligkeit dieses höchsten Gefühls dcr
Raumüberwindung herrlicher ge°
schildert, als Goethe in den be-
rühmten Versen im Faust vom
„göttergleichen Flug", den „der
wilde Berg mit allen seinen
Schluchten" nicht hemmt, dieses Ge-
fühls, das „jedem eingeboren" und
das den Zaubermantel, der in
fremde Länder trägt, nicht um den
Königsmantel tauschen mag.

Karl Wilhelm

Eisenbahn und Pferd

ie Entwicklung schreitet furt",
so haben die Kunstwart-Leser
noch vor vierzehn Tagen wieder
gelesen. Gleichviel, ob dies nun
einmal in der Form bourgeois-

freundlicher Versghmnastik oder in
dröhnender Politikertirade oder im
stolzen Feierabendgespräch des
Aviatikers ausgesprochen werde, —
der Inhalt des Satzes wird heute
allgemein hingenommen, wie Kur-
rentmünze, und die Frage be-
lächelt, die sich daran knüpft. Die
Wahrheit des Gedankens erscheint
so evident, daß es scheint, vernünf-
tigerweise könne sie gar nicht in
Frage gestellt werden. Und doch
hat man nichts, rein nichts dabei
in der Hand. Entwicklung ist ein
Prozeß, welcher, weil cr einer ist,
prozediert, fortschreitet. Wer würde
je sagen: die Vcrwaltung verwaltet,
die Regierung regiert, ohne ein Ge-
fühl der Lächerlichkeit zu befürchten?

Man meint also wie mit so vie-
len Schlagwörtern so mit dem von
der fortschreitenden Entwicklung
nicht das, was im Wort liegt, son-
dern etwas andres. Es läßt sich
erraten, daß die Freude an der
Förderung gemeint ist, die uns der
Fortschritt bringt. Nnd diese För-
derung wird anscheincnd als eben-
falls evident empfunden, wenn auch
nicht im gleichen Grade wie das
Schlagwort, dessen noch stärkere
Einleuchtkraft es vielleicht am Le°
ben erhalten hat. Bewegen wir
uns denn einmal ein bißchen auf
Gemeinplätzen, um den Fortschritt
noch einmal im Geiste mitzuschreiten:
vor hundert Iahren ging das Nci-
sen langsam; man brauchte Pferde
und Kutschen, die oft gewechselt
wurden, war Anfällen ausgesetzt
und auf elende Gasthöfe angewie-
sen; oder man ritt; später kam die
Eisenbahn, die nun unser Eiltempo
verbürgt. Das stolze Staatbürger-
gefühl, von Berlin nach Swine-
münde nunmehr in vierthalb Stun-
den fahren zu können, das ist es,
welches die Behauptung vom Fort-
schritt in so unbestrittene Höhen
entrückt.

38-l Kunstwart XXI V, s8
 
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