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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

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Heft 18
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0476
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Wir verbleibcn im Binsenbereich
der Mahrheit mit den Gegenerwä-
gungen: ist es nicht Täuschung, was
da gepricscn wird? War die Post-
kutschenreise nicht viel bequcmer,
viel bildender, viel — poetischer als
unsre Eisenbahnfahrt? War der
lebendige Zusammenhang mit dem
Pferd nicht weitaus gewinnreicher
als die hilflose Fortgetragenheit des
technisch Ahnunglosen von anno
1911? l-auästio temporis scti pflegt
man solche Erwägungen zu nennen,
zn deutsch: romantische Sehnsucht
nach der guten alten Zeit. Da wir
es aber nicht als unzart empfinden,
unsre Altvordern als zurückgeblie-
bene Tröpfe zu betrachtcn, und da
romantische Sehnsucht in unscrm
Zeitalter eo ipso als verdächtig und
absurd gilt, ist durch solche Gegner-
schaft unser fortschrittlicher Gemein-
platz erst recht ins Licht gerückt.

Wie gewöhnlich protestieren ein
paar Philosophen von der Nebcl-
warte ihrer Tagfrcmdheit gegen
ihn. Sie behaupten den Fortschritt
nicht erblicken zu könuen. Das
Pferd habe jene älteren Leute so
glücklich gemacht wie uns die
Eisenholzwagen. Wechsel spiele,
kein Schritt schreite voran. Da°
gegen andere: niemand kann ver-
kennen, wie gewaltig ethische Idea-
lität in historischer Zeit vom Geist
der ganzen Menschheit Besitz er-
griffen hat. Schließen wir uns
diesen an, — was hat das aber
mit den Pfcrden und der Dampf-
schienenfahrt zu tun? Ich glaube,
kein Philosoph ergründet das.

Endlich ernst gesprochen: Fort-
schritt, Fortschrittgewinn in jeder
technischen Entwicklung zu suchcn
und stolz zu preisen, hat gar keinen
Sinn. Es bedarf keiner Sehnsucht
nach vergangcncn Lieblichkeiten,
durchaus keiner Romantik, um zu
sehen, daß der technische Fortschritt
an sehr vielen Stellen, wo er mit

Emphase auftritt, wirklich und
wahrhaftig einen menschlich-cthi-
schen Verlust bedeutet, wobei der
etwa als Gegenwcrt gewonnene Ge°
winn noch sehr fraglich ist.

Das rührt aber nicht von der
immanenten Zerstörkraft des Fort-
schritts, sondern von der bourgeoi-
sen Phrase her, die ihn vergöttert.
Denn es liegt an sich nicht im Be°
griff der Eisenbahn, daß durch das
mit ihrer Lntstehung in die Welt
gekommene Gift alle Pferde dcm
bittern Tode geweiht würden. Man
entsetzte sie aber ihres Amtes. Ent-
setzte sie ohne Bedenken, im er°
wähnten Hochgefühl, nun fortge-
schritten zu sein. Und übersah da-
bei, daß es gar nicht nötig war, so
grausam zu verfahren. Wollten
denn alle Reisenden eilen? Alle
Rauch und Ruß schlucken? Alle
die durchreiste Landschaft oberfläch-
lich durchfliegen, fremd werden im
Vaterland? Mußte die Möglich-
keit genommen werden, lebendig
fühlsam von Ort zu Ort zu ge-
langen? Denn wer kann heute
noch reisen wie Goethe reiste, außer
dem Hochbegüterten, der Gefährt
und Zugtier selbst bezahlen kann!
Ahnliches haben wir oft erlebt.
Kaum war der Freilauf erfunden,
so geriet das starrachsige Zweirad
in Mißkredit, das so viel haltbarer
und für viele Zwecke so viel brauch-
barer ist. An wieviel Stellen mag
elektrisches Licht die trauliche Lampe
verdrängt haben, wo sie allein den
wirklichen Bedürfnissen genügte?
Verdrängt mit Hilfe des Fort-
schrittwahns?

Gegen den Fortschritt, der so
barbarisch vorgeschritten ist, wird
man sich als Heilmittel den Rück-
schritt denken. Aber es liefe dabei
ein Irrtum unter. Wir könncn
nicht gut zurück. Heute sind Pferde
teuer! Nicht zehn Prozent dcr
Gastwirte verstehen ihre Pflege,

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