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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

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Heft 18
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0477
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VonderSprache

haberr Stallung. Die Postfahrt ist
nicht mehr organisiert. Der Fort-
schritt hat es getan. Zugnnsten un-
gezählter lebendiger Stunden und
tausend froher Genüsse sollte ein
Gebot ergehen, ihn nicht mehr zu
preisen, da er dadurch an Hyper-
trophie des Selbstbewußtseins er-
krankt. Und, wer gründet mit mir
einen Deutschen Bund zur Bekämp-
fung des Fortschritts, zur Verbilli-
gung des Pferdemarktes und der
Wagenfabrikation nebst Gründung
wohlbcstallter Gasthöfe?

Hans Herter

Geht den Dialekten nach!

ie Leser werden vielleicht zu-
nächst erschrecken und an die
Greuel denken, die sie als duldende
Zuhörer erlebt haben, wenn ein
norddeutscher Reisebegleiter im
Süden „weanerisch" oder „boarisch"
zu reden anhub. Man denkt an
das Gespräch mit der Kellnerin auf
demAlpenfeste: „Deandel, wia hoaßt
denn?" „Oller Dusel, Sie sin doch
ooch aus Pankow!" llnd meint,
daß man solchen Sport lieber ein-
dämmen als befördern sollte. Sol-
chen Sport eindämmen wollen wir
auch. Aber zum wirklichen Ken-
nenlernen von Dialekten möch-
ten wir auffordern. Wer einen
kcnnenlernt, wird es voraussichtlich
aufgeben, ihn nach zwei Wochen
Sommerfrische überlegen beherr-
schen zu wollen. Er wird bei
jedem einen solchen Reichtum an
feinen Einzelzügen, an organisch
notwendigen und ästhetisch reiz-
vollen Besonderheiten antreffen,
daß er genug zu tun hat, sich
darin bescheidentlich zurechtzufin-
den. Ich muß dabei an die Ge-
schichte aus dem „grünen Heinrich"
denken: wie der junge Maler
hochgemut und siegessicher sich
daranmacht, einen Baum zu zeich-
nen, und am Abend zwar mit

leerem Blatt, aber mit staunenden
und zn vollerem Leben geweckten
Sinnen heimkehrt. Vielleicht sind's
dieselben Werte, auf die es uns
hier wie dort ankommt. Wir
können und wollen nicht für unsre
Sommerwanderung Dialektforscher
werden. Einige Kenntnisse werden
sehr wertvoll und nicht schwer
zu erlangen sein. Aber es wird
sich uns vor allem um das leben-
dige Er-Fahren handeln. Das ge-
hört ja mit zu den feinsten Neizen
des Wandererlebens: über dem
Paß im nächsten Tal wieder neuen
Lauten und Worten zu begegnen.
Nichtig beobachtet, um nicht zu
sagen: angeschaut, verwächst der
Dialekt zu einer genußvollen Ein-
heit mit dem Gesamtbild derLand-
schaft und der Menschen und fügt
ihm oft ganz wesentliche Züge
hinzu, die wir in unsrer Erinne-
rung nicht missen möchten. Von
diesem Zusammenhang aber abge-
sehen, der sich ja doch nur bei
längerem Aufenthalt vollkommcncr
herstellt: wieviel Kraft der An°
schauung und des Bildens in den
Dialekten lebt, in jedem nach seiner
besonderen Art, geht uns, wenn
wir's auch schon vorher wußten, doch
so recht erst auf der Wanderung,
im lebendigen Umgang mit der
Sprache selbst auf. Man wird
manches Wort, manche Nedensart
geradezu als einen gewichtigen klei-
nen besondern Reisegewinn mit
fortnehmen. Wir können ja dcr-
lei Spracherfrischung, und wenn
sie nur darin besteht, daß uns die
Armlichkeit unsres Papierdeutsches
recht bewußt wird, sehr gut brau-
chen; ein Stück sinnlich - geistige
Erholung, wie wir sie ja in den
Ferien suchen, ist zum allerminde-
sten dabei. Drittens und für dies-
mal letztens aber: man kann kaum
liebevoller eine Landschaft genießen
als mit einem echten Heimatdichter

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