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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,2.1912

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Heft 9 (1. Februarheft 1912)
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Avenarius, Ferdinand: Nach den Wahlen
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Beaulieu, Héloise von: Vortragsbildung: ein Gespräch
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https://doi.org/10.11588/diglit.9026#0210
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eine bisher mit Fraktionspolitik verknüpfte Frage aus dieser Ver-
quickung zu lösen, hat die Kulturpartei ein Stück Arbeitsland mehr.
Rnd ein besonders wichtiges, wenn sich's dabei um eine Frage der
Organisation der Lntscheidungen selber handelt. Das
wäre bei der Minderheitvertretung so, vor allem aber bei der Ein-
führung des Referendums. Wird nun endlich die allgemeine Vorarbeit
dasür in allen Parteien einsetzen? Oder ist auch dazu die „Verkalkung"
in den Fraktionsadern schon zu hart? A

VorLragsbildrrng

Ein Gespräch

^W^i-e Idealistin: Vorhin erzählte mir eine Bekannte, sie habe
diesen Winter an die hundert Vorträge gehört. Ich stand dabei
ganz beschämt, denn ich habe höchstens ein Dutzend besucht.
Ls ist wahr, man sollte diese guten Gelegenheiten, sich über alle mög-
lichen Materien auf angenehme Weise belehren zu lassen, viel mehr
ausnutzen. Leider ist meine Ausnahmefähigkeit nur begrenzt.

Der Skeptiker: Sollten Sie es durch Fleiß und Abung nicht
dahin bringen können, es Ihrer Bekannten gleichzutun, sie wohl
gar zu übertressen? — Etwa zur Kaffeestunde einen Vortrag über
die Lebensgewohnheiten der Schlupfwespen; zur Vesper einen über
Goethes Verhältnis zur Antike oder einer anderen Dame, abends
einen über „Die sittliche Hebung des Kellnerinnenstandes" ? Da-
zwischen ließe sich vielleicht noch einer über die Nordpolforschung,
das Salome- oder das Lheproblem einschieben.

Die Idealistin: Warum so ironisch? Die Gebiete des Wissens
sind zu groß, das Leben ist zu lnrz, als daß jeder sich selbständig über
alles unterrichten könnte.

Der Skeptiker: Sie haben recht! Das Leben ist wirklich viel
zu kurz, als daß jeder über jedes Bescheid wissen könnte. Aber er-
lauben Sie mir eine Frage: ist das denn nötig?

Die Idealistin: Man möchte doch etwas wissen von der Welt,
in der man lebt, nicht so verständnislos hindurchtanmeln! Ilnd
soll man da nicht dankbar sein, wenn andre einem helfen, sich zu
bilden, und einem so Zeit und Mühe sparen?

Der Skeptiker: Ls rührt mich, ja wahrhaftig: es rührt mich,
daß Sie unsre moderne Bildungsstreberei für saustischen Lrkenntnis-
drang nehmen. Aber Fausten hätte es sicher nicht besriedigt, seinen
Wissensdurst in Vorträgen zu stillen, — nicht einmal Wagnern,
denn der war zu gründlich und scheute weder Zeit noch Mühe.

Die Idealistin: Es ist doch natürlich nicht der Zweck eines
Vortrags, gründlich zu belehren. Lr will doch nur anregen.

Der Skeptiker: Wozu anregen? Zum Selbststudium? — Sie
sagten ja eben selbst: Vorträge sind ein abgekürztes Verfahren, um
sich zu bilden. Also bleibt es bei der Anregung. Was soll es denn
aber, sich ewig anregen zu lassen — zu neuer Anregung? Für mich
ist der Schrei nach „geistiger Anregung", den man besonders in Frauen-
kreisen ewig hört, so recht bezeichnend sür unsere aus Denkschlassheit
und Sensationslust gemischte Geistesverfassung. Anregung! In der

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