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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,2.1912

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Heft 10 (2. Februarheft 1912)
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Lose Blätter
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9026#0316
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Aügerneineres

Händen das Haar zurecht. Dann, mit einer mädchenhaften Bewegung,
stützte sie die Hände an ihre Laille und stand so lange, den Kopf etwas
gesenkt, aber doch unverwandt, die Augen von der beglänzten Kühle
draußen festgebannt. Und je länger sie so ruhig stand, um so sicherer
regelte sich ihr Atem und glänzten ihre Augen. Es schien, als zöge
sie leicht die Luft, die durch das Fenster strömte, mit ihren ein wenig
geössneten Lippen ein und schmeckte sie auf ihrer Zunge. Schließlich
nahm sie mit schneller Bewegung — einer Bewegung voll jener fremden
Grazie — die Glocke von der Lampe, die schon auf dem Lische stand,
und machte Licht, so daß das bunte Holz der Wände sreundlich auf--
leuchtete. Darauf schloß sie das Fenster und zog den Vorhang ganz zu und
begann, wie alle Abende, sich auszukleiden. Während sie aber sonst,
schon ehe sie ganz fertig war, ihr langes, auf dem Bett bereitliegendes
Nachthemd sich über den Kopf anzog, ließ sie es diesmal ruhig liegen und
nahm die Lampe mit beiden Händen und stellte sie neben den großen
Spiegel und fing an, in aller Ruhe und doch bis in ihr innerstes
Wesen von einem seltsamen Leben erregt, sich, aller Hüllen bloß, in
dem halbdunkeln Glase zu betrachten. So, indes ihr schöner Körper die
Zaubereien von Licht und Schatten auffing, und selbst wie in einen
lieblichen, rätselhaften Rhythmus bannte, stand sie sehr lange unbeweg--
lich vor der glänzenden Tiese, die ihr Bild barg. Welt und Wirklichkeit
verging halb vor ihren Sinnen, und es wurde ihr zumute, als stände sie
hier so, wer weiß wo, bewegungslos und doch bewegt, verlockend und un-
nahbar selig, wie auf einem perlmutterfarbenen Schiffe gleitend, und
ihr zur Seite flöge mit leichtem Flügelschlag ein großer, schöner Vogel,
dessen Hals und Schweif und Fittiche von lauter goldenen Federn glänz-
ten, die im Fliegen fein und tönend sängen, indes seine roten Füße
sich wie die eines Wappenvogels zusammenkrallten und seine runden,
glühenden, klugen Augen unbewegt und stolz in die Weite voraus-
schauten, die silbern vor ihnen beiden dämmerte.

Rundschau

Leben und Gespenster

er grundlegende A-nterschied aller
zukünftigen Weltanschauungs-
entwürfe von den früheren wird
der folgende sein müssen.

Alle bisherigen Weltanschauun-
gen gingen von irgendeiner be-
stimmten Erkenntnis aus und fol-
gerten von daher eine zusammen-
hängende Theorie Himmels und der
Erde, darin das doppelte Ideal
herrschte: j. daß alles logisch wider-
spruchslos sei und womöglich aus-
einanderfolge und 2. daß möglichst
kein Plähchen der Welt srei bleibe,
das nicht seinen bestimmten endgül-

tig sestgelegten Ort im System des
Ganzen habe.

Diese Art Weltanschauung ist für
uns unmöglich geworden. Wir sind
zu empfindlich für die Eigenart der
einzelnen Erkenntnisströme ge-
worden.

Wir sind nicht nur Augentiere.
Stellen wir uns vor, wir wären
es. Die Welt läge da, wie sie liegt
in Sonnenschein und Sturm. Aber
den Sturm hörten wir nicht, den
Sonnenschein fühlten wir nicht. Die
Welt wäre stumm und unantastbar.
Gewiß, sie würde nicht einmal so
aussehen, denn Augen, denen kein

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