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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,2.1912

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Heft 12 (2. Märzheft 1912)
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Schumann, Wolfgang: Tolstoi und sein Nachlaß
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9026#0486
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rmchdrücklichere, menschlich ernstere Arbeit Wortgestalt gefunden hat,
als man sie in durchschnittlichen „wissenschaftlichen" Büchern sindet.
Im Hintergrunde steht aber natürlich nicht der „Beweis" sür die
Richtigkeit der Meinungen, sondern die gewaltige Persönlichkeit
Tolstois, die zu „widerlegen" sinnlos erscheint. Wer sich ihr nähern
will, hat außer den Diederichsschen Ausgaben der religiösen und
sozial-ethischen Schristen neuerdings noch einen starken Briefband zur
Verfügung? Er ist natürlich reich an liebenswürdigen Zeugnissen von
der osfenen, leidenschastlich fühlenden, tatmutigen Natur Tolstois und
nicht minder ersüllt von Gedanken aus der Zeit seiner Nmwandlung
und seiner letzten Lntwicklung. Manche der Auseinandersetzungen
wirken mit der ganzen Gewalt einer raschen persönlichen Kündgebung,
klar, scharf, eindringlich, manche dagegen verworren, hilslos sast. Im
ganzen war Tolstoi kein rechter Briefschreiber: es fehlt seiner harten,
selbstanalytischen Natur das heiter Plaudersame, die erzählsroheWelt-
freude ebenso wie die vielseitige innere Bezogenheit aus Leid und
Freude der Empsänger. Vielleicht allerdings gründet sich dieser Ein-
druck auch auf die Auswahl der Briese- sie wird von den Heraus-
gebern nicht begründet, die Ausgabe zeugt leider überhaupt von recht
slüchtiger und nicht genügend auf die Bedürfnisse des Lesers bedachter
Arbeit. Dennoch ist der Lindruck, den die Sammlung hervorruft,
stark und nachhaltig; mag man sich an die stärker subjektiven Iugend-
briese aus den Tagen des Leutnants oder an die abstrakteren Briefe
des lehrenden Tolstoi halten, überall weckt seine Hingabe, sein Ernst,
seine Wahrhaftigkeit, sein eisernes, schonungloses Ringen nach höheren
Stusen der Vollkommenheit Teilnahme, Bewunderung, Ehrfurcht.
Warm ist hier der innerste Atemzug dieses langen Lebens zu spüren,
der Liebe war, und man begreist unmittelbar, wie sein großer Lands-
mann Kropotkin ihn „den am meisten geliebten Mann, den in der
rührendsten Weise geliebten Mann in der Welt" nennen konnte.

Wolfgang Schumann

Lose Blätter

Aus Tolstois Briefen

Äber Dichter und Dichtungen

(Äber Turgenjew)

^ berhaupt wundere ich mich stets bei Turgenjew, wie er mit seiner
^ I Klugheit und seinem poetischen Feingefühl es nicht versteht, sich von
'^^einer banalen Schreibweise fernzuhalteir. Bssonders viel Triviales
steckt in seinen abschreckenden Schilderungen, die an Gogol erinnern. Da
ist keine Menschlichkeit, keine Teilnahme mit den Personen zu spüren,
sondern der Autor geißelt nur menschliche Schwächen und hat mit ihnen
kein Mitleid. Das steht aber in einem krankhaften Widerspruch zu dem
Ton und dem Geist des Liberalismus. So etwas ließ man sich in uralten

* „Briefe (8^8—(9(0", 560 Seiten. Ebenso wie die drei Nachlaßbände
im Verlag Ladhschnikow, Be-lin, erschienen.

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