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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,2.1912

DOI Heft:
Heft 10 (2. Februarheft 1912)
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Erdmann, Karl Otto: "Erzieher" und "Weltmann"
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https://doi.org/10.11588/diglit.9026#0295
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Iahrg. 25 ZweilesFebruarheft 1912 tzeftlO^

„Erzieher" und ^Weltmann"

lles Menschenwerk läßt sich von zwer grundsätzlich verschiedenen
I »Standpunkten" aus beurteilen. Wer sich auf den ersten stellt,
^^mißt mit sittlichen Maßstäben, er fällt Werturteile, er äußert
Lob oder Tadel, zeigt Begeisterung oder Lntrüstung. Wer den zweiten
einnimmt, wertet zunächst überhaupt nicht: er analysiert und erklärt;
er untersucht etwa die Vorbedingungen einer Handlung, geht ihren
Motiven nach, sucht sie nachzufühlen und zu verstehen. Der erste ist
der moralisierende, der wertende, der richtende, der „sittlich pathetische"
Standpunkt; der zweite der erklärende, verstehende, begreisende. Äuch
von einer „pädagogischen" und „psychologischen" Verhaltungsweise
ließe sich reden.

Dieser Gegensatz ist von den sonstigen großen Gegensätzen der
Lebensanschauungen ziemlich unabhängig. Zwei Menschen können
genau dieselben Grundsätze verfechten und doch über einen konkreten
Fall niemals zur Verständigung kommen, weil sich der eine instinktiv
aus deri Standpunkt des moralisch pathetischen und Zensuren austei-
lenden Erziehers stellt, der andre aber auf den des analysierenden
Psychologen, dem nichts Menschliches sremd ist. Ebenso oft ist aber
auch das Amgekehrte der Fall. Zwischen dem Anarchisten, der jeden
Fürstenmord in ehrlicher Begeisterung als Heldentat preist, und dem
normalen, gutgesinnten Staatsbürger, der ohne weiteres den Attentäter
als sluchwürdiges Scheusal, als Abschaum der Menschheit bedingungs-
los verurteilt, besteht gewiß hinsichtlich der politischen und moralischen
Äberzeugung der denkbar stärkste Gegensatz. Aber im Sinne der hier
in Rede stehenden Anterscheidung ist ihre Verhaltungsweise ganz
die gleiche: sie stehen beide aus dem „moralisch pathetischen^ Stand-
punkt : und beiden gleichmäßig entgegengesetzt ist das Verhalten dessen,
der „verstehen" will. Dieser ist ebenso fern von Begeisterung wie von
Empörung; er versetzt sich in die Seele auch des größten Verbrechers,
er rechnet mit dessen ererbten und angeborenen Trieben und Leiden-
schaften als gegebenen Faktoren, er begreist ihn als Produkt seiner
Umgebung, seiner Erziehung, der sozialen Verhältnisse und endigt
mit der bekannten Formel: Alles verstehen heißt alles verzeihen. Zu-
mal der Leugner der Willenssreiheit wird diesen Standpunkt leicht zu
verfechten wissen. Solange er im Auge behält, daß alles menschliche
Tun zwingende Arsachen hat, solange er es als notwendig be-
greift, solange wird er auch kein echtes moralisches Pathos aufbringen.

Es wird wenig einzelne und Koltektivhandlungen, wenig mensch-
liche Bestrebungen und Institutionen geben, die nicht schon von beiden
Standpunkten aus beurteilt worden sind. Ob über die Lrmordung
Stolypins oder die Vergewaltigung Finnlands, über antisemitische
Metzeleien, über Roheiten und Verleumdungen im Wahlkampf, über
Revolutionen oder Kriege geurteilt wird: immer fühlen sich die einen
zum Richten und Aburteilen berufen, während die andern alles
„historisch begründet" oder „psychologisch erklärlich" finden. Den Pre-

2. Februarheft A?
 
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