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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 23 (1. Septemberheft 1919)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0229

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Intelligenz den weiten Erdkreis zu erobern, lehrt die Geschichte dem, welcher
den uralten Stamm unseres Wissens durch die tiefen Schichten der Vor--
zeit bis zu seinen Wurzeln zu verfolgen weiß. Diese Vorzeit befragen heiszi
dem geheimnisvollen Gange der Ideen nachspüren, auf welchem dasselbe
Bild, das früh dem inneren Sinne als ein harmonisch geordnetes Ganzes,
Kosmos, vorschwebte, sich zuletzt wie das Ergebnis langer, mühevoll ge--
sammelter Erfahrungen darstellt.

- In diesen beiden Epochen der Weltansicht, dem ersten Erwachen des
Bewußtseins der Völker und dem endlichen, gleichzeitigen Anbau aller
Zweige der Kultur, spiegeln sich zwei Arten des Genusses ab. Den einen
erregt, in dem offenen kindlichen Sinne des Menschen, der Eintritt in die
freie Natur und das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher in dem ewigen
Wechsel ihres stillen Treibens herrscht. Der andere Genuß gehört der
vollendeteren Bildung des Geschlechts und dem Reflex dieser Bildung
auf das Individuum an: er entspringt aus der Einsicht in die Ordnung
des Weltalls und in das Zusammenwirken der physischen Kräfte. So wie
der Mensch sich nun Organe schafft, um die Natur zu befragen und den
engen Raum seines flüchtigen Daseins zu überschreiten; wie er nicht mehr
bloß beobachtet, sondern Erscheinungen unter bestimmten Bedingungen her-
Vorzurufen weiß; wie endlich die Philosophie der Natur, ihrem alten dich--
terischen Gewande entzogen, den ernsten Lharakter einer denkenden Betrach--
tung des Beobachtenden annimmt: treten klare Erkenntnis und Begrenzung
an die Stelle dumpfer Ahnungen und unvollständiger Induktionen. Die
dogmatischen Ansichten der vorigen Iahrhunderte leben dann nur fort in
den Vorurteilen des Volks und in gewissen Disziplinen, die, in dem Be--
wußtsein ihrer Schwäche, sich gern in Dunkelheit hüllen. Sie erhalten
sich auch als lästiges Erbteil in den Sprachen, die sich durch symbolisie--
rende Kunstwörter und geistlose Formen verunstalten. Nur eine kleine Zahl
sinniger Bilder der Phantasie, welche, wie vom Dufte der Nrzeit umflossen,
auf uns gekommen sind, gewinnen bestimmtere Amrisse und erneuerte Gestalt.

Die Natur ist für die denkende Betrachtung Einheit in der Vielheit,
Verbindung des Mannigfaltigen in Form und Mischung, Inbegriff der
Naturdinge und Naturkräfte, als ein lebendiges Ganzes. Das wichtigste
Resultat des sinnigen physischen Forschens ist daher dieses: in der Mannig--
faltigkeit die Einheit zu erkennen; von dem Individuellen alles zu umfassen,
was die Entdeckungen der lehteren Zeitalter uns darbieten; die Einzelheiten
prüfend zu sondern und doch nicht ihrer Masse zu unterliegen: der er--
habenen Bestimmung des Menschen eingedenk, den Geist der Natur zu
ergreifen, welcher unter der Decke der Erscheinungen verhüllt liegt. Auf
diesem Wege reicht unser Bestreben über die enge Grenze der Sinnenwelt
hinaus; und es kann uns gelingen, die Natur begreifend, den rohen Stoff
empirischer Anschauung gleichsam durch Ideen zu behei-rschen.

Wenn wir zuvörderst über die verschiedenen Stufen des Genusses nach--
denken, welchen der Anblick der Natur gewährt, so finden wir, daß die
erste unabhängig von der Einsicht in das Wirken der Kräfte, ja fast un-
abhängig von dem eigentümlichen Charakter der Gegend ist„ die uns um-
gibt. Wo in der Eben^, einförmig, gesellige Pflanzen den Boden bedecken
und auf grenzenloser Ferne das Auge ruht; wo des Meeres Wellen das
Afer sanft bespülen und durch Nlfen und grünenden Seetang ihren Weg
bezeichnen: überall durchdringt uns das Gefühl der freien Natur, ein
dumpfes Ahnen ihres „Bestehens nach inneren ewigen Gesetzen". In

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