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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

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Heft 23 (1. Septemberheft 1919)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0233

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war nicht der Zweck des „Versöhnungs--
fricdens". Die Ungerechtigkeit ist hier
nicht notwendige Unvollkommenheit,
sondern beabsichtigte Vollkommenheit.
Die Einsichtigen zwar in den Grenz--
völkern winkten ab; aber die Entente
wnßte, daß solche Gifte automatisch
wirken. Und das tun sie nun.

Dänemark erklärte öffcntlich, daß es
nicht mchr Land haben wolle, als ihm
nach Bevölkerungsmchrheit zukomme.
Lrst recht setzte die Enteute Abstimmung
über die klare Bevölkerungsmehrheit
hinaus fest: die verarmten Leute stim-
men sich am Ende ganz gern von der
hungernden Mutter los; nachher setzt
die Irredenta von selbst ein und die
beabsichtigte Dauerfeindschaft ist da. In
Wirklichkeit fängt der Zankapfel schon
jetzt an zu wirken.

Es fragt sich nun, was zu tun ist.

Das Falscheste wäre, wenn nun bei
uns der Ärger sich gegen die Nachbarn
entlüde. Das hieße die Scheiterhaufen
mit eigner Hand entzünden, welche die
Entente um uns herum aufgeschichtct hat.

Wir köuncn sicher sein, daß die Vcr-
nünftigen in den Nachbarvölkcrn diese
Danaergeschcnke der Luieute ablehnen.
Mögen es wenige sein; denn in solchen
Volksfragcn zu so ausgcregter Zeit ent-
scheidet nicht Gerechtigkeit noch Ver-
nunft. Abcr sie sind, so wenig immer,
der Same der Zukunft. Sie müssen für
uns ihr ganzes Volk vertreten. An
sie nur müsscn wir denken im Ver-
kehr mit dem Volke. Nnd wenn sie
kein Wort von sich hören ließen, auch
dann, dann erst recht. Denn das ist
der Weg, sie zu wecken, und wenn nötig,
sie zu schaffen.

Denn haben müssen wir sie; sie sind
uns nötiger als das liebe Brot. „Gute
Freunde, getreue Nachbarn" erklärt
Luther zum täglichen Brot.

Haben wir aber Wut und Zorn zu-
viel, mehr als sich herunterschlucken
läßt, so darf kein Bissen davon an die
verschwendet wcrden, welche Opfer der
Entente sind, sie wie wir selbst.

Das muß unsre erste Gegenmaßregel
gegen die Entente sein: die satanischen
Schlingen ihres „Vcrsöhnungsfriedens"
aufzulösen.

Am wichtigsten freilich ist und bleibt
— und leider am schwersten —, die
Schlingen aufzulösen, die in unser

eigenes Land hineingelegt sind. Der
„Staatsgerichtshof" mag nötig sein, —
weniger, weil die Linke, als weil die
äußerste Nechte mit ihrer Agitation ihn
fordert. Aber man hüte sich vor Wut-
verhandlungen. Man erwäge, wessen
Geschäfte man besorgt, wenn unser Volk
noch mehr auseinandergehetzt wird.

Bonus

Die Aussichten der Weltrevolution und
die Zersetzung der Sozialdemokratie
it dcr Unterwerfung Dcutschlands
untcr den „Frieden", dessen An»
nahme die noch aufrecht und hoffnungs-
voll gebliebenen Patrioten verzweifelt
bekämpften, die unsicher gewordenen
feindlichen Imperialisten ersehnten, die
englischen Liberalen für unwahrschein-
lich und ihrem Gewissen beschwerlich
hielten, französische Militärs und Ka-
pitalisten als Hindernis weiterer An-
nexionen und Zerstückelungen fürchteten,
und die deutschen Massen sich stumpf
und müde gefallcn ließeu, ist die Lage
für die Wclt und die Lage für Deutsch-
land insbesondere eine zwar nicht fried-
liche, aber jedenfalls neue geworden.
In Deutschland halten die großen Par-
teien ihre Parteitage und blicken zurück
und vorwärts, suchen vor allem die
Fühlung mit den Weimarer Fraktio-
nen, die durch die Abneigung gegen
Preußen in dem kleinen Idyll an der
Ilm vom bisherigen Mittelpunkt des
deutschen Lebens grundsätzlich fernge-
halten wurden und dort dreiviertel
Iahre lang die Geschicke Deutschlands
geleitet haben, soweit es sich dieser Lei-
tung fügte.

Aberall zeigt sich, daß die Verhält-
nisse inzwischen reichlich andere ge°
worden siud, als sie damals beim Zu-
sammeutritt der Nationatversammlung
gewesen siird. Indem ich in dieser
Lage die Reihe meiner Briefe seit Aus-
bruch der Revolution überlese, empfinde
ich auch meinerseits den ganzen rasen-
den Wechsel der Bilder. Die Briefc
haben jeweils nur das augenblickliche
Bild der Dinge geben wollen, wie es
aus hundert Nachrichten, Gesprächen,
Wahrnehmungen, Erlebnissen, Zeitun-
gen und Broschüren aufzufangen war,
und gar nicht den Ehrgeiz gehabt, den
Gang der Dinge zu erraten und zu
konstruieren oder Ziele des politischen

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