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Kunstwart und Kulturwart — 32,4.1919

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft 1919)
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Avenarius, Ferdinand: Zum Gedächtnis Naumanns
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https://doi.org/10.11588/diglit.14424#0259

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schien. Was sich darin aussprach, war seine leidenschaftliche Frende an
der Wirklichkeit, die vor ihm abrollte, und die er mit klareren und
schärferen Augen verfolgte als wir andern. Mit den Augen des Künst--
lers, ganz ohne Zweifel; er hatte den Blick für das Wesentliche, für das
Charakteristische an den Dingen und Geschehnissen, der die Voraussetzung
künstlerischen Schaffens bildet. Damit hing anch seine Meisterschaft in
der Beherrschung der Sprache zusammen, die ihn zum glänzenden Iourna-
listen, zum ersten Redner seiner Zeit gestempelt hat. Er war stch dieser
Gabe bewußt und hat sie mit Fleiß und Willen gepflegt; das beweist seine
Schrift über die Kunst der Rede, vielleicht die beste Theorie der Rhetorik,
die wir haben.

In Friedrich Naumann lebte ein Künstler. Seine politischen Gegner
pflegten das mit einer gewissen Absichtlichkeit anzuerkennen, nämlich um ihn
dadurch als Politiker gleichsam zu diskreditieren. Töricht genug; denn welcher
große Politiker ist etwa nicht Künstler gewesen? Die Politik ist eine
Kunst, kein Handwerk; ist Schauen und Schaffen, nicht Registrieren und
Reagieren. Freilich, der Begriff des Künstlers umschreibt den größeren
Kreis; jeder große Politiker ist Künstler, aber nicht jeder Künstler ist
Politiker. Das entscheidende Merkmal, was den künstlerisch begabten Men-
schen zum Politiker werden läßt, ist der Wille, in den Gang der Dinge
handelnd einzugreifen. Dieser Wille war bei Naumann vorhanden
und hat ihm seine Bahn vorgezeichnet, die ihn aus Kirchendienst und
Pfarrerberuf heraus in die Arena des politischen Kampfes geführt hat.

And in den Dienst des politischen Handelns hat er auch seine künst-
lerische Gestaltungskraft gestellt, der er einen großen Teil seiner Lrfolge
in der öffentlichkeit verdankte. Sie war es, die ihm die Gewalt über die
Herzen seiner Zuhörer und Leser verlieh, die seinen Sätzen jene Klarheit
und Anschaulichkeit gab, mit der er auch den trockensten und sprödesten
Stoff genießbar machen konnte. Wer vermochte wie er aus einer statisti-
schen Tabelle, aus einer geschichtlichen Zahlenreihe ein lebendiges Bild,
ein farbiges Gemälde erstehen zu lassen! Der Künstler ist der Deuter des
Lebens; und so ist Naumann für eine breite Schicht des deutschen Bolkes
der Dolmetscher des wirtschaftlichen Und politischen Lebens der Zeit ge-
worden, das ihm seine Zusammenhänge enthüllte. Aber, um es noch ein-
mal zu sagen: die künstlerische Gestaltung war ihm Mittel, nicht Zweck.
„Ich habe nie Schriftsteller werden wollen", schreibt er einmal, „bin es
aber geworden, weil man ohne Schriftstellerei keine Ideen sozialer und
politischer Art verwirklichen kann."

Es hat Leute gegeben, die versucht haben, Naumann als Politiker mit
Bismarck zu vergleichen. Der Vergleich ist lehrreich; denn er vermag auch
die Begrenzung von Naumanns Fähigkeiten aufzudecken. Sehen wir von
einem Anterschied ab, der mehr den Grad betrifft, nämlich, daß Nau-
manns Willensbegabung doch nicht an die dämonische Tatkraft des Ge-
waltmenschen Bismarck herangereicht hat. Eine wesentliche Verschie-
denheit der beiden Männer liegt in folgendem. So scharf und seherisch
Naumanns Blick für die Dinge, für die Verhältnisse des Geschehens war,
so wunderbar sich seiner Phantasie die Zahl beleben konnte: ihm ermangelte
der Instinkt der M e n s ch e n kenntnis, der dem politischen Genie eiguet.
Den Menschen gegenüber war Naumann oft wie ein harmloses Kind; und
oft genug ist er darum von ihnen, namentlich im privaten Leben, miß-
braucht und betrogen worden. Er hat sich diese Schwäche innerlich nie

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