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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 22.1979

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Nr. 4
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Koertgen, Hans-Erich; Jens, Walter: Das humanistische Gymnasium - ein Missverständnis?
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https://doi.org/10.11588/diglit.33076#0066

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Schule, die Leseschule, das Gymnasium als eine Anstalt beschrieben, die eben
nicht mit der traditionellen Standesschule gleichzusetzen sei, sondern die diese
Standesschule transzendiere. Das humanistische Gymnasium ist in einer Epoche
neu formuliert worden, im Neuhumanismus, die nur im Zusammenhang mit der
bürgerlichen Emanzipation, vor allen Dingen im Zusammenhang mit der franzö-
sischen Revolution zu sehen ist.
Das humanistische Gymnasium ist seiner Zielsetzung nach durch und durch
von Humboldt bestimmt eine republikanische Schule.
Hans-Erich Koertgen
Nun leben wir in einer Zeit, in der sich Wissen unglaublich schnell vermehrt, ver-
vielfacht, aber auch spezialisiert. Ist es da nicht eigentlich ein nicht mehr vertret-
barer Luxus, sich in alte Sprachen und alte Kulturen zu versenken?
Prof. Jens:
Was habe ich am Ende eines Tags als Schüler, wenn ich um acht Barbarossa, um
neun unregelmäßige Verben, um zehn die Anden, um elf Gravitationslehre, um
zwölf vielleicht den semantischen Wert des Adverbativs gepaukt habe, ohne auch
nur eine Sekunde zu fragen, ,wozu das alles?4 Und diese Frage ,wozu das alles4
stellt das humanistische Gymnasium, indem es antike Modelle, die nicht Ras-
sisch4, nicht ein für alle Mal fertig sind, sondern die unvollkommen sind, nämlich
diese Modelle weiterdenkt und von hier aus von einer Gesamtkonzeption aus
auf die Gegenwart blickend eben die große Sinnfrage stellt, das ganze Disparate,
jetzt dies und morgen das, wozu dient es denn eigentlich und welche Funktion
hat es in der Konzeption einer Gesamtgeltung.
Hans-Erich Koertgen:
Wenn Menschenbildung wichtiger ist als Wissensvermittlung, die sich nur nach
Nützlichkeit orientiert, wie steht es dann eigentlich um das Menschenbild in
dieser Menschenbildung? Was kann uns das humanistische Gymnasium dazu
heute noch sagen?
Prof. Jens:
Das ist die schwierigste Frage, die Sie stellen. Sicherlich, und da weichen wir
entschieden von der Klassik ab, so viele Epigonen es immer noch gibt, sicher-
lich können wir nicht von einem für alle Zeiten gültigen Menschenbild ausgehen,
wie es zum Beispiel in der griechischen Antike beschworen worden ist. Der Be-
griff der Klassik ist uns problematisch geworden. Es gibt nicht ,das Klassische4
schlechthin. Wir sehen stärker auch die historischen Bedingtheiten auch des ver-
meintlich Klassischen. Aber ich will Ihnen ein Beispiel nennen, und das wird
Ihre Frage beantworten. Ich glaube, es war in den 20er Jahren: ein großer inter-
nationaler Historikerkongreß von Ost und West befragte sich: Gibt es ein für

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