Abschlußprofil (Großes / Kleines Latinum, Grund oder Leistungskurs) der Schüler er-
strebt. Ob der Gesamtaufwand an Wahlmöglichkeiten und Beratungszwängen effektiv
ist — die Beantwortung dieser Frage bleibe dem nachdenklichen Leser überlassen.
Daß die Alten Sprachen trotzdem noch bestehen können, sei mit bescheidener Ge-
nugtuung angemerkt. Die Lage ist zwar ernst, möchte man mit trockenem Humor sa-
gen, aber keineswegs hoffnungslos; zwar ist der «vollhumanistisch« (man entschuldige
den Ausdruck) im alten Sinn ausgebildete Abiturient selten geworden; andererseits
wurde bei der Vielfalt von Angeboten noch nie von so zahlreichen Schülern mehr
oder weniger lang und mehr oder weniger intensiv Latein gelernt. Auch die Chancen
dieser Breitenwirkung sollten nicht unterschätzt werden, zumal auch bisher bildungs-
fernere Schichten der Bevölkerung hier erstmals auf Latein aufmerksam werden. Die
didaktische Bemühung, möglichst viele Schüler mit der alten Welt in Berührung zu
bringen, kann auch als aktueller humanistischer Auftrag an die Vermittler der Antike
verstanden werden, ihre bisherige splendid isolation aufzugeben und den Elfenbein-
turm zu verlassen; in die Breite zu wirken und «die Möglichkeiten des Realisierbaren
auszuschöpfen«, womit ich ein Zitat des griechischen Dichters Pindar (5. vorchristli-
ches Jahrhundert) aufgreife, das ich damals als Motto für die Festschrift von 1962 vor-
schlug: emprakton äntlei machanän.
Andererseits: Latein zu lernen lohnt sich erfahrungsgemäß um so mehr, je länger man
es betreibt; es ist ein Fach, für das man eigentlich einen langen Atem braucht, und bis
zu dem Lernziel «Genuß literarischer Werke« ist es ein weiter Weg, denn um Autoren
vom Range eines Lukrez oder Seneca oder Augustinus wirklich lesen und verstehen zu
können, bedarf es eben vieler Jahre, und daß sich die Mühe lohnte, wird erst der er-
fahren, der sie auf sich genommen hat. Latein zu lernen braucht eben seine Zeit, daran
ändern auch alle didaktischen Beschleunigungsversuche und Raffinessen nichts; «gut
Ding will Weile haben«; Geduld ist die Kunst zu warten, und das geduldige Verweilen
bei den Phänomenen der Texte ist ja eine der «Haupttugenden« des Lateinlernens für
unsere schnellebige Zeit.
Wie sieht nun der altsprachliche Lehrer der 80er Jahre sich selbst? Wie rechtfertigt er
die Vermittlung der Antike und wie den dafür zu erbringenden Aufwand an Zeit und
Kraft? Die Umrisse dieses Selbstverständnisses sollen im folgenden skizziert werden,
wobei ich Gedanken weiterspinne, die ich in den beiden letzten Festschriften ent-
wickelte, aber auch an Ausführungen anknüpfe, die ich an anderen Stellen veröffent-
licht habe.
Wenn ich zunächst einen gemeinsamen Nenner suche für das, was altsprachlicher
Unterricht heute zu leisten versucht, dann fällt mir die Formulierung eines Theologen
ein, die ich als Stichwort, und nicht ohne provokatorische Nebenabsicht, den folgen-
den Gedankengängen voranstellen möchte; Johann Baptist Metz prägte im Blick auf
die Religion die Forme) von der «produktiven Ungleichzeitigkeit«. Was ist damit ge-
meint? Ungleichzeitigkeit ist alles, was nicht aktuell ist, das Vor- und das Nachzeitige,
Vergangenes und Zukünftiges, Tradiertes und utopisch Vorgestelltes. Produktiv ist das
Ungleichzeitige z.B. dann, wenn man, nach einem Paradox von Ernst Bloch, entdeckt,
wieviel Zukunft in der Vergangenheit liegt. Die multimediale tnformations-, Konsum-
und Werbewelt, in der wir leben, will uns auf strikte Gleichzeitigkeit festlegen, theolo-
gisch gesprochen: auf die totale Immanenz; wer sie zu transzendieren sucht, stört den
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strebt. Ob der Gesamtaufwand an Wahlmöglichkeiten und Beratungszwängen effektiv
ist — die Beantwortung dieser Frage bleibe dem nachdenklichen Leser überlassen.
Daß die Alten Sprachen trotzdem noch bestehen können, sei mit bescheidener Ge-
nugtuung angemerkt. Die Lage ist zwar ernst, möchte man mit trockenem Humor sa-
gen, aber keineswegs hoffnungslos; zwar ist der «vollhumanistisch« (man entschuldige
den Ausdruck) im alten Sinn ausgebildete Abiturient selten geworden; andererseits
wurde bei der Vielfalt von Angeboten noch nie von so zahlreichen Schülern mehr
oder weniger lang und mehr oder weniger intensiv Latein gelernt. Auch die Chancen
dieser Breitenwirkung sollten nicht unterschätzt werden, zumal auch bisher bildungs-
fernere Schichten der Bevölkerung hier erstmals auf Latein aufmerksam werden. Die
didaktische Bemühung, möglichst viele Schüler mit der alten Welt in Berührung zu
bringen, kann auch als aktueller humanistischer Auftrag an die Vermittler der Antike
verstanden werden, ihre bisherige splendid isolation aufzugeben und den Elfenbein-
turm zu verlassen; in die Breite zu wirken und «die Möglichkeiten des Realisierbaren
auszuschöpfen«, womit ich ein Zitat des griechischen Dichters Pindar (5. vorchristli-
ches Jahrhundert) aufgreife, das ich damals als Motto für die Festschrift von 1962 vor-
schlug: emprakton äntlei machanän.
Andererseits: Latein zu lernen lohnt sich erfahrungsgemäß um so mehr, je länger man
es betreibt; es ist ein Fach, für das man eigentlich einen langen Atem braucht, und bis
zu dem Lernziel «Genuß literarischer Werke« ist es ein weiter Weg, denn um Autoren
vom Range eines Lukrez oder Seneca oder Augustinus wirklich lesen und verstehen zu
können, bedarf es eben vieler Jahre, und daß sich die Mühe lohnte, wird erst der er-
fahren, der sie auf sich genommen hat. Latein zu lernen braucht eben seine Zeit, daran
ändern auch alle didaktischen Beschleunigungsversuche und Raffinessen nichts; «gut
Ding will Weile haben«; Geduld ist die Kunst zu warten, und das geduldige Verweilen
bei den Phänomenen der Texte ist ja eine der «Haupttugenden« des Lateinlernens für
unsere schnellebige Zeit.
Wie sieht nun der altsprachliche Lehrer der 80er Jahre sich selbst? Wie rechtfertigt er
die Vermittlung der Antike und wie den dafür zu erbringenden Aufwand an Zeit und
Kraft? Die Umrisse dieses Selbstverständnisses sollen im folgenden skizziert werden,
wobei ich Gedanken weiterspinne, die ich in den beiden letzten Festschriften ent-
wickelte, aber auch an Ausführungen anknüpfe, die ich an anderen Stellen veröffent-
licht habe.
Wenn ich zunächst einen gemeinsamen Nenner suche für das, was altsprachlicher
Unterricht heute zu leisten versucht, dann fällt mir die Formulierung eines Theologen
ein, die ich als Stichwort, und nicht ohne provokatorische Nebenabsicht, den folgen-
den Gedankengängen voranstellen möchte; Johann Baptist Metz prägte im Blick auf
die Religion die Forme) von der «produktiven Ungleichzeitigkeit«. Was ist damit ge-
meint? Ungleichzeitigkeit ist alles, was nicht aktuell ist, das Vor- und das Nachzeitige,
Vergangenes und Zukünftiges, Tradiertes und utopisch Vorgestelltes. Produktiv ist das
Ungleichzeitige z.B. dann, wenn man, nach einem Paradox von Ernst Bloch, entdeckt,
wieviel Zukunft in der Vergangenheit liegt. Die multimediale tnformations-, Konsum-
und Werbewelt, in der wir leben, will uns auf strikte Gleichzeitigkeit festlegen, theolo-
gisch gesprochen: auf die totale Immanenz; wer sie zu transzendieren sucht, stört den
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