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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 29.1986

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Aufsätze
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Maier, Friedrich: Die Herausforderung des Gymnasiums: eine neue Chance für die Alten Sprachen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.35877#0043

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Die Herausforderung des Gymnasiums
Eine neue Chance für die Aiten Sprachen?*
Die Spannung, unter der das Leben der Menschen heute steht, ist bedrohlich. Und
eben diese Menschen geben nicht auf - trotz Erkenntnis der Gefahren - die überalt
spürbare Spannung ständig zu verstärken. Ein Dilemma der Menschheit! Worin hat es
seinen Grund? Die Wurzeln reichen, wie wir meinen, weit in die Geistes- und Kultur-
geschichte Europas zurück. Wir wollen sie an zwei Daten zu fassen versuchen: 399 v.
Chr. und 1543 n. Chr.
Was haben diese Daten miteinander zu tun? Epochale Jahre; Haltepunkte - Wende-
punkte in der Menschheitsgeschichte. 399 Tod des Sokrates, 1543 Tod des Koperni-
kus. Zwei Männer, deren Taten, wie man sagte, die Welt veränderten, die res huma-
nae in je verschiedene Richtungen brachten.
Kopernikus, Astronom und Humanist, lenkte mit seinem Werk: ,,De revolutionibus or-
bium caelestium" das Denken des Mittelalters aus seinen aristotelisch-christlichen
Bahnen, er leitete mit dem Buch, das die ,,Revolution" schon im Titel trägt, wie je-
mand schrieb, ,,die wildeste Revolution ein, die wissenschaftliche". Kopernikus
machte das Denken frei, mit ihm begann die Wissenschaft, i. 5. die Naturwissenschaft,
die nach und nach die Grundlagen auch und gerade für die technischen Leistungen
fand. ,,Durch Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton machte die Zivilisation in drei-
hundert Jahren größere Fortschritte als vorher in 3000 Jahren." So ein Biograph dieses
Mannes. Man hat bekanntlich diesen geistes- und kulturgeschichtlichen Wendepunkt
die ,,Kopernikanische Wende" genannt. Sokrates, der Philosoph, ein Mann also, der
nach der Weisheit suchte, war in anderer Hinsicht ein Revolutionär, einer, der ,,das
Denken seiner Zeit umdrehte", ca. 2000 Jahre früher. Er lenkte als erster die Aufmerk-
samkeit des Menschen weg von der Spekulation um die Erscheinungen am Himmel,
im Kosmos, in der Natur. Davon verstünde er nichts, wie er nach Platon und Xeno-
phon gesagt haben soll; er wolle auch vom Wesen der Natur und der Himmelserschei-
nungen nichts wissen. Damit sich abzugeben sei Torheit, ehe man über die menschli-
chen Dinge, die ay^peunrya, Bescheid wüßte. Sein Interesse galt der Frage, was das
Fromme, Schöne, Gerechte, Tapfere, Politische sei. Entgegen der naturphilosophi-
schen Spekulation kümmert er sich um die moralischen Grundlagen des Menschen,
darum, was in der Seele des Menschen zu seinem Glück abläuft. Seine Entdeckung,
das 5atpoytoy, eine Art von Gewissen, ist wohl die revolutionäre ,,Erfindung", die ihm
letztlich den Tod und der Philosophie - nach späterer doxographischer Feststellung -
die Ethik, 7*b i?#txoy pepo? , gebracht hat. Sokrates hat die Wissenschaft vom Men-
schen, die philosophische Anthropologie, in Gang gebracht. Er hat, wie es Cicero klas-
sisch formulierte, als erster die Philosophie vom Himmel herabgerufen und in den
Städten angesiedelt und in die Häuser der Menschen eingeführt und hat sie gezwun-
gen, über das Leben, über die Götter, über die guten und schlechten Dinge nachzu-
denken. Den scharfen Schnitt, den der Grieche Sokrates in der Geistes- und Kulturge-
schichte setzte, hat man dann auch zutreffend die ,,Sokratische Wende" genannt.
* Der hier vorgeiegte Beitrag stellt den ersten (allgemein gehaltenen Teil) eines Vortrags dar, den ich anläßlich
einer Ehrung von Herrn Leitenden Ministerialrat Dr. Karl Bayer am 17. Juli 1985 am Wilhelmsgymnasium
in München hielt. Der Charakter des Vortrags ist - mit geringfügigen Änderungen - beibehalten.

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