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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 29.1986

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Nr. 1
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Fortsetzung (Ende?) eines Briefwechsels
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Kubina, Bruno: Wesenhaft verwandte Seelen psychologisch entdeckt oder Ein Herz für die kleinen Leute
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https://doi.org/10.11588/diglit.35877#0022

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kleinen Leute. Und der Dichter steht auf ihrer Seite. Er zeigt das mit einer - Bosheit:
v. 3 ille und itla in ihrer nominalen Nacktheit weisen auf schon Erwähntes hin; ille also
auf clerus, illa, entsprechend, auf hera. Das erzwingt geänderte Betonung in Vers 3;
denn
bibit ille, bibit illa
wäre eine unnötige Wiederholung; ille ist ja clerus und illa hera.
Bibit ille, bibit illa
dagegen gibt Sinn; denn der Vers, so akzentuiert, bewirkt in einer frechen, unerwarte-
ten Steigerung des anaphorischen Strömens besondere Prägnanz. Der Sinn nämlich
von bibit - so betont - kann nur sein: trinkt wirklich oder heimlich oder exzessiv, säuft.
Pikanterweise stellt der Poet gerade die zwei als Säufer heraus, bei denen solche Art
des Trinkens besonders ungehörig ist (Kaiserin, Kleriker). Aber nichts hindert, anzu-
nehmen, daß sozusagen über "pars pro toto« (jeder steht für jeden) auch die im Text
zwischen hera und clerus plazierten herus und miles, also alle vier, als dem Trunk Er-
gebene hingestellt werden sollen. Wer so von Standespersonen denkt, gehört inner-
lich zu den anderen. Noch deutlicher wird des Dichters Sympathie für die einfachen
Leute, wenn man dem notwendigen Tonabfall von Vers 3 zu Vers 4 Beachtung
schenkt. Die Tonschwächung in 4 malt humilitas, stellt damit den Standesunterschied
auch klanglich heraus, führt zu einem natürlichen Abschluß und läßt die vier Verse als
einen Kosmos soziologischer Provenienz erscheinen.
Gerade diese Verse, in denen sich bei dem mittelalterlichen Poeten das Unbewußte
manifestiert, hat der Jubilar als Einstimmung auf das zu feiernde Fest ausgesucht, und
die Auswahl war groß: Nicht weniger als 15 anaphorisch mit bibit beginnende Verse
aus dem sieben wüste Strophen umfassenden Burana-Gedicht standen zur Verfügung.
In den ausgesuchten vier muß er also über die Zeiten hinweg eine verwandte Seele ge-
spürt haben. Auch er, behaupten wir, hält es mit den Leuten von Vers 4. Den Versen
nämlich läßt er folgen:
Proinde etiam vos bibite mecum causa data.
Proinde verschraubt, und deshalb müssen - jedweder Satz geht ja mit dem nächsten
schwanger - Vers 4 und Proinde ... data in Relation stehen. Das führt zu folgender
Überlegung:
1. Vos meint zwar unmißverständlich alle Besitzer der gedruckten Einladung, wer aber
bis hierher der unterschwelligen Betrachtungsweise folgen mochte, wird leicht servus
cum ancilla als Beziehungsgruppe zu vos ausmachen.
2. Etiam geht folglich - andere Gruppen oder Personen sind im Text ja nicht zu finden -
auf die Standespersonen aus Vers 1 und 2. Hinterrücks werden sie abgewertet, denn
sie erscheinen als Eingeladene, ohne daß sie als solche überhaupt genannt werden.
3. Das gegenüber Hochgestellten übliche quaeso beim Einladungsimperativ (bibite)
ist, ganz passend, weggelassen. Damit hat der Jubilar die Nichthochgestellten (Vers 4)
als Adressaten deutlich gekennzeichnet. - Die obige Behauptung ist zutreffend.
Der Potator des Mittelalters darf sich aufmachen und, die Jahrhunderte durchwan-
dernd, angelangt, der Reihe der Gratulanten sich anschließen. Zwei wesenhaft ver-
wandte Seelen begegnen sich.

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