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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 37.1994

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Maier, Friedrich: Zukunft nicht ohne die Antike: Perspektiven des altsprachlichen Unterrichts : zur Eröffnung des DAV-Kongresses in Bamberg 1994
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https://doi.org/10.11588/diglit.33059#0052

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terricht allein an der Idee messen, wie er sich in den modernen Lehrplänen und Lehrbüchern prä-
sentiert; alle ihre Vorstellungen eines solchermaßen lebendigen und lebensnahen Unterrichts soll-
ten und könnten danach verwirklicht werden. Aber fragen wir uns: Stagniert nicht in der Realität
der Schulstube der Unterricht, läuft er nicht vielfach in ausgetretenen Bahnen weiter? „Was ist das
für ein Ablativ?" Etwa Lebensnähe durch diese Frage? Verliert das Fach seine Leichenblässe durch
Feststellungen wie: „Das ist ein Chiasmus!" „Hier ist die Elision zu beachten "? Gewiß, alles philo-
logisch nicht verkehrt, in der Regel auch notwendig. Aber: Lebendig-Machen vollzieht sich in ande-
ren, vor allem affektiven Dimensionen, und in ganz verschiedenen Unterrichtsformen: im Sprechen
der Sprache, im Singen und Spielen, auch in der kreativen Verarbeitung des Lehrstoffes in Text, Bild
und Ton, zu allererst freilich in der interpretorischen Arbeit an den antiken Texten, die jene Elemen-
te des Denkens, Fühlens und Sprechens enthalten, die wie Fermente in den verschiedenen Epochen
der vergangenen 2000 Jahre wirkten und durch Anstoßen von jeweils Neuem die Kontinuität der
europäischen Kultur mitstifteten. Das, was in den Texten steht, muß in seiner herausfordernden
Vitalität bewußt gemacht werden, etwa das Wort als gefährliche Waffe in einer Cicero-Rede, der
Ovidische IVlythos von Ikarus als Deutungs-Symbol für Maler und Schreiber aller Zeiten; Sokrates als
Leitfigur für den nach Wahrheit suchenden Menschen, der am Ödipus-Sphinx-Rätse! exemplifizierte
Satz „sc/'enf/'a esf pofent/'a" als die Zauberformel, die den Weg in das technische Zeitalter mit allen
Konsequenzen und Komplikationen eröffnete usw. Verlebendigung heißt hier, bei gebotener Rück-
sicht auf die historische Bedingtheit, dem Text seinen Sitz im Leben zu geben. Ihn dem Verständnis
des Schülers so zu öffnen, daß er sich davon persönlich angesprochen fühlt, Ihn nicht wie ein Stück
beschriebenes Papier beiseite schiebt.
„Nur eines dürfte eine Bildungsstätte nicht", sagte der große Pädagoge Andreas Flitner in einem
Rundfunkbeitrag 1985, „sich zufrieden geben mit papierenem Wissen, das die Schüler zwar wie-
dergeben können, aber mit ihnen selbst, ihrem eigenen Denken nichts zu tun hat; das sie unbe-
wegt läßt, gleichgültig gegenüber den Werken der Literatur oder gegen die Ereignisse der Politik."
Die methodische Maxime, die einer solchen Unterrichtsabsicht adäquat ist, kann nur heißen: Inte-
gration, in einem doppelten Sinne verstanden: Integration einmal im individuellen Sinne, so wie
Seneca den Akt des engagierten Lesens versteht, wonach das Gelesene nicht unverdaut im Magen
liegen bleiben, sondern zu Körpereigenem umverwandelt werden sollte. „Verdauen wir es! Sonst
geht es in unser Gehirn (memor/'a), nicht aber in unser Wesen (/ngen/'um) ein." Nur was das Wesen
erfaßt, wirkt lebensnah und wird als sinnvoll erfahren. Lesenswert erweist sich demnach ein alt-
sprachlicher Text erst in seinem existentiellen Anspruch an den Leser.
Integration sodann verstanden im universellen Sinne, wonach die ausgewählten Lektürestoffe als
Teil eines größeren Ganzen, als Elemente einer zumindest im Ansatz als Einheit begreifbaren Kultur
erkannt und eingeordnet werden können. Das verlangt nach Überblick und Zusammenschau und
erfordert ohne Zweifel auch ein Übersteigen der Fachgrenzen, den Blick auf spätere Wirkungen und
Rezeptionen, das Vergleichen und den bewußten Transfer, auch die Zusammenarbeit mit Lehrern
der sog. modernen Fächern, auf jeden Fall das überlegte Aufeinanderbeziehen der alten und neuen
Fächer, die ja heute sehr häufig in einer Hand liegen; dies in kleinen Versuchen schon im Sprachun-
terricht, als leitendes Prinzip im Lektüreunterricht. Nur so erhält die harte Arbeit an den griechi-
schen und lateinischen Originaltexten das Etikett des Belangvollen. Die Alten Sprachen bieten
nichts, was abgeschlossen und limitiert ist. Sich einzuspinnen oder gar abzuschotten ist gerade für
diese Fächer kontraproduktiv. Wände erzeugen Vorurteile und isolieren. Isolation aber wäre wie-
derum tödlich und ließe nie den Eindruck von Lebensnähe aufkommen. Nur die Erfahrung eines
lebendigen Zusammenhangs der antiken Stoffe mit der Welt, die sich dem Schüler allmählich er-
schließt, verschafft den Alten Sprachen in seinen Augen eine Rechtfertigung, die auch nach deren

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