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Mil der Bitte um Veröffentlichung im „Kunstblatt“ ist mir kürz-
lich aus einer großen westdeutschen I ndustriestadt folgende Notiz
zugegangen: „In der Handwerker- und Kunstgewerbeschule
sprach Professor Dr. Soundso an vier Abenden über Menzel, Böcklin, Hod-
ler und Jetztkunst (Böckstiegel). Da nicht anzunehmen sein wird, daß alle
diese Namen den Lesern geläufig sein werden, ist vorweg zu sagen, daß
Böckstiegel ein junger Dresdner Maler ist, der mit einigem epigonischem
Geschick van Gogh nachmalt, ein kleines Mitläuferchen, das man, wenn
man besonders guter Laune ist und wenn man Lust dazu hat, in einer Aus-
stellung zwischen anderen gerade noch passieren lassen mag. Dieser kleine
Mann, der so gleichgültig ist, daß ich ihm selbst bei dieser Gelegenheit
nichts zu leide tun möchte, wird in solcher Vortragsfolge gewissermaßen in
eine Reihe gerückt mit Menzel, Böcklin und Hodler. Daß viele der Profes-
soren und Doktoren, die heule um die junge Kunst und nicht nur um die
junge Kunst sich sorgen, dabei auf mancherlei Unsinn verfallen, kann als
bekannt vorausgesetzt werden, und auch dieser absonderliche Fall wäre
nicht eine Zeile wert, wenn derlei Grotesken nicht symptomatisch wären.
Die gleiche Absurdität: Menzel, Böcklin, Hodler und Böckstiegel, dasselbe
sinn- und kritiklose Vermanschen des Einzigartigen, schöpferisch Großen
mit der lahmen, gleichgültigen, wesenlosen Kunstmache bei denen, die
heute neue Kunst zu propagieren vorgeben, ist so sehr zur üblen Gewohn-
heit geworden, daß man schon einmal mit Flauheit zu einer moralischen
Anwandlung kommen kann: „Was mich täglich empört, ist mitanzusehen,
wie ein Meisterwerk und eine Scheußlichkeit auf eine Stufe gestellt werden.
Man regt die Kleinen auf und erniedrigt die Großen, nichts ist dümmer
und unmoralischer.“
Es wäre wohl widersinnig, nicht zu erwarten, daß eine so ganz aus
allen Geleisen geratene Zeit nicht auch ihre Unmoral in die Kunst hinein-
projizieren würde. Die Erniedrigung der Großen und die lächerliche Auf-
putschung der Kleinen, wogegen der sonst wider alle Verirrungen so
philosophisch gleichmütige Flauheit, aufs tiefste verletzt, aufbegehrt,
dieser Mangel an Distanz und Verantwortlichkeitsgefühl ist gegenwärtig
geradezu an der Tagesordnung. Man sehe sich die Ausstellungen an, was

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