DER EINE UND DER ANDERE HODLER
Mit seinen 300 Tafeln gibt das große Hodlerwerk von C. A. Loosli eine
einzigartige Übersicht über die in Sammlungen und Galerien zerstreute
Produktion des Schweizer Malers, Übersicht, die so weit getrieben ist, daß
man fast schon behaupten könnte, sie sei eher dazu angetan, das
Charakterbild dieses Schaffens zu verschleiern als herauszustellen. Bilder,
Skizzen, Studien, mit Bienenfleiß ist alles, was Hodler gemacht hat, zu-
sammengetragen worden. Gutes und Schlechtes. Eine Zusammenstellung,
die nicht die Absicht hat, kritisch auszulesen, dazu ein Text, der in
gleicher Weise verzichtet auf kritische Wertung und auf eine Ausein-
andersetzung von einem weiteren Aspekt aus. Loosli selbst ist weniger
Hodler-Biograph als Hodler-Liebhaber, Liebhaber, der aufs neue das
Wort zu bewähren scheint, daß die Liebe oft blind macht. Was er gibt,
ist eine Dokumentensammlung. Wem es darum zu tun ist, objektiv über
Umfang und Art des Hodlerschen Schaffens unterrichtet zu werden, wird
diese Vollständigkeit willkommen heißen. Freilich Hodler verträgt diese
uneingeschränkte Publizität*) nicht. Er versagt oft, er ist häufig nicht nur
gleichgültig, zuweilen ist dieses Versagen geradezu grotesk, von einer pein-
lichen Haltungslosigkeit. Gerade das macht dieses Werk — gegen die
Absichten des Verfassers — evident, die Geduld des Betrachters, der sich
durch Dutzende von Tafeln hindurcharbeiten muß, bis er an ein voll-
gültiges Werk herankommt, wird auf eine harte Probe gestellt. Aber es
gibt doch auch diesen anderen Hodler, diesen Hodler, der Weg und Stil
gefunden, der, vielleicht mehr Ideenmaler als Maler, von einer inneren
Monumentalität gestraffte Begriffsbilder zu formulieren verstand, den
Hodler des Jenaer Studentenbildes, des Marignano-Rückzuges, der
„Ergriffenheit“, der kleinen Genfer Seelandschaft, gibt einen Hodler, der
in dem „Zwiegespräch mit der Natur“ eine lyrische Empfindung von
großer Zartheit zu fassen vermochte, und für den (in der Frühzeit) ein
charakteristisches Porträt wie das der Schwester (von 1880) keine Zufalls-
leistung war. Kein Zweifel, der „Calvin im Hof der Genfer Hochschule“,
das Selbstbildnis von 1917 und \vie vieles noch sind katastrophale Sachen.
Was besagt das? Daß Hodler nichts ist, nichts bedeutet? Doch wohl nicht,
*) Während der Drucklegung gehl mir der erste Band des Benderschen Hodler-Werkes zu, das
die kritische Auseinandersetzung nicht scheut und dadurch wertvoll ist. Allerdings der weitaus
größte Teil der Abbildungen dieses ersten Bandes, der das Jugendwerk umfaßt, bestätigt aufs
neue, daß Hodler diese uneingeschränkte Publizität nicht verträgt.
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Mit seinen 300 Tafeln gibt das große Hodlerwerk von C. A. Loosli eine
einzigartige Übersicht über die in Sammlungen und Galerien zerstreute
Produktion des Schweizer Malers, Übersicht, die so weit getrieben ist, daß
man fast schon behaupten könnte, sie sei eher dazu angetan, das
Charakterbild dieses Schaffens zu verschleiern als herauszustellen. Bilder,
Skizzen, Studien, mit Bienenfleiß ist alles, was Hodler gemacht hat, zu-
sammengetragen worden. Gutes und Schlechtes. Eine Zusammenstellung,
die nicht die Absicht hat, kritisch auszulesen, dazu ein Text, der in
gleicher Weise verzichtet auf kritische Wertung und auf eine Ausein-
andersetzung von einem weiteren Aspekt aus. Loosli selbst ist weniger
Hodler-Biograph als Hodler-Liebhaber, Liebhaber, der aufs neue das
Wort zu bewähren scheint, daß die Liebe oft blind macht. Was er gibt,
ist eine Dokumentensammlung. Wem es darum zu tun ist, objektiv über
Umfang und Art des Hodlerschen Schaffens unterrichtet zu werden, wird
diese Vollständigkeit willkommen heißen. Freilich Hodler verträgt diese
uneingeschränkte Publizität*) nicht. Er versagt oft, er ist häufig nicht nur
gleichgültig, zuweilen ist dieses Versagen geradezu grotesk, von einer pein-
lichen Haltungslosigkeit. Gerade das macht dieses Werk — gegen die
Absichten des Verfassers — evident, die Geduld des Betrachters, der sich
durch Dutzende von Tafeln hindurcharbeiten muß, bis er an ein voll-
gültiges Werk herankommt, wird auf eine harte Probe gestellt. Aber es
gibt doch auch diesen anderen Hodler, diesen Hodler, der Weg und Stil
gefunden, der, vielleicht mehr Ideenmaler als Maler, von einer inneren
Monumentalität gestraffte Begriffsbilder zu formulieren verstand, den
Hodler des Jenaer Studentenbildes, des Marignano-Rückzuges, der
„Ergriffenheit“, der kleinen Genfer Seelandschaft, gibt einen Hodler, der
in dem „Zwiegespräch mit der Natur“ eine lyrische Empfindung von
großer Zartheit zu fassen vermochte, und für den (in der Frühzeit) ein
charakteristisches Porträt wie das der Schwester (von 1880) keine Zufalls-
leistung war. Kein Zweifel, der „Calvin im Hof der Genfer Hochschule“,
das Selbstbildnis von 1917 und \vie vieles noch sind katastrophale Sachen.
Was besagt das? Daß Hodler nichts ist, nichts bedeutet? Doch wohl nicht,
*) Während der Drucklegung gehl mir der erste Band des Benderschen Hodler-Werkes zu, das
die kritische Auseinandersetzung nicht scheut und dadurch wertvoll ist. Allerdings der weitaus
größte Teil der Abbildungen dieses ersten Bandes, der das Jugendwerk umfaßt, bestätigt aufs
neue, daß Hodler diese uneingeschränkte Publizität nicht verträgt.
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